Verführt von einer Lady
Großvaters nicht irgendeine Klausel? Irgendein kleines Haus in der Nähe von Leeds, das er für seinen jüngeren Sohn gekauft hatte? Er wollte nicht danebenstehen und zusehen, wie Audley in seine Rolle schlüpfte. Er würde den anderen Besitz nehmen und dem allen den Rücken kehren.
Er nahm einen Schluck Brandy – er war beinahe durch mit der Flasche, was ihn mit einer gewissen Befriedigung erfüllte. Es war nicht einfach gewesen, den Brandy zu besorgen, und er hatte nicht unbedingt den Wunsch, ihn zurückzulassen. Der Anblick erinnerte ihn an gewisse körperliche Funktionen, und so schob er den Stuhl zurück und erhob sich. In der Ecke stand ein Nachttopf, aber er hatte diesen Teil von Belgrave kürzlich mit den neuesten Errungenschaften der Sanitärtechnik ausgestattet. Auf dieses Vergnügen würde er nicht verzichten, ehe er nach Leeds ging.
Und so machte er sich auf den Weg den Flur hinunter. Es war spät, im Haus war alles still. Er erledigte sein Geschäft, bewunderte das Wunderwerk modernen Erfindungsgeistes und ging zurück zum Arbeitszimmer, wo er die Nacht verbringen oder zumindest so lange bleiben wollte, bis der Brandy ausgetrunken war.
Auf dem Rückweg hörte er, dass noch jemand wach war. Er blieb stehen und linste in den rosa Salon. Auf dem Tisch stand ein Kandelaber mit brennenden Kerzen, die den Raum in flackerndes Licht tauchten. Grace saß auf der gegenüberliegenden Seite des Raums und suchte mit unzufriedener Miene im Sekretär herum, schob Schubladen auf und zu.
Er sagte sich, dass er sich bei ihr entschuldigen müsse. Sein Benehmen an diesem Nachmittag war unmöglich gewesen. Sie waren einfach schon zu viele Jahre befreundet, um es so enden zu lassen.
Von der Tür aus sagte er ihren Namen, und sie sah erschrocken auf.
„Thomas“, sagte sie. „Ich wusste gar nicht, dass Sie noch wach sind.“
„So spät ist es doch noch gar nicht.“
Sie lächelte ihn zaghaft an. „Nein, vermutlich nicht. Die Herzoginwitwe liegt schon im Bett, schläft aber noch nicht.“
„Ihre Arbeit hat auch nie ein Ende, was?“, fragte er und trat in den Raum.
„Nein“, sagte sie und zuckte resigniert mit den Schultern. Diese Bewegung hatte er bei ihr schon so oft beobachtet. Und den dazugehörigen Gesichtsausdruck – ein wenig reuig, ein wenig ironisch. Wirklich, er wusste nicht, wie sie es mit seiner Großmutter aushielt. Er ertrug sie, weil er es musste.
Nun ja, vermutlich hatte auch Grace keine große Wahl. Anstellungsmöglichkeiten für vornehme junge Damen mit wenig oder keinem Vermögen waren nicht gerade zahlreich gesät.
„Oben ist mir das Schreibpapier ausgegangen“, erklärte sie.
„Schreiben Sie Briefe?“
„Für Ihre Großmutter“, bestätigte sie. „Ich habe niemanden, dem ich schreiben könnte. Wenn Elizabeth Willoughby einmal heiratet und wegzieht, werde ich …“, nachdenklich hielt sie inne, „… werde ich sie vermissen.“
„Ja“, sagte er und dachte an das, was Amelia ihm erzählt hatte. „Sie sind gut miteinander befreundet, nicht wahr?“
Sie nickte. „Ah, hier haben wir etwas.“ Sie zog einen kleinen Stapel Papier heraus und schnitt eine Grimasse. „Ich muss jetzt gehen und die Briefe Ihrer Großmutter schreiben.“
„Schreibt sie ihre Briefe denn nicht selbst?“, fragte er überrascht.
„Sie glaubt, dass sie es tut. Aber ihre Handschrift ist einfach fürchterlich. Niemand könnte je entziffern, was sie einem mitteilen will. Selbst mir fällt es schwer. Und so muss ich beim Abschreiben immer auch ein wenig improvisieren.“
Das entlockte ihm ein leises Lachen. Grace war so ein guter Kerl. Er fragte sich, warum sie nie geheiratet hatte. Ließen sich die Gentlemen von ihrer Stellung auf Belgrave abschrecken? Vermutlich. Er war daran wohl auch nicht ganz unschuldig, da er sie unbedingt als Gesellschafterin seiner Großmutter behalten wollte und es daher verabsäumt hatte, ihr eine kleine Mitgift auszusetzen, damit sie es nicht mehr nötig hatte zu arbeiten und sich einen Ehemann suchen konnte.
„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Grace“, sagte er und ging auf sie zu.
„Wegen heute Nachmittag? Nein, ich bitte Sie, seien Sie doch nicht albern. Die Situation ist schrecklich, da kann Ihnen niemand vorwerfen …“
„Man kann mir eine Menge vorwerfen“, unterbrach er sie. Er hätte ihr die Möglichkeit geben sollen, sich einen Ehemann zu suchen. Dann wäre sie zumindest bei Audleys Ankunft nicht hier gewesen.
„Bitte“, sagte sie, und ihr Gesicht
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