Verfuehrung
Du bräuchtest dich nicht zu fürchten, entdeckt zu werden. Du könntest die Prima Donna der Oper sein, nicht der Primo Uomo. Unter deinem eigenen Namen, nicht unter dem eines toten Jungen.«
Ein Blitzschlag hätte sie nicht mehr treffen können. Obwohl der Gedanke so nahelag, er hatte nie bei ihr angeklopft. Sie hörte auf, ihr Hemd zuzuknöpfen, und setzte sich neben ihn.
»Nicht Bellino«, sagte er. Er imitierte die Anpreiser, die vor den Theatern versuchten, die Menschen von den Straßen hineinzulocken. »Der neue, strahlendste Stern am Opernhimmel – La Calori!«
»Ich könnte dann nie wieder innerhalb des Kirchenstaats auftreten.«
»Wer hat denn Don Sancho damit in den Ohren gelegen, schon immer nach Neapel zu wollen? Neapel liegt außerhalb des Kirchenstaats, und für die Oper dort gilt das Gleiche wie für die Theater Venedigs.«
»Kastraten werden doppelt so gut bezahlt wie Spitzentenöre und erhalten das Vierfache des Lohnes der besten Sopranistinnen. Sie werden auch viel mehr verehrt als Sängerinnen. Außerdem sind ihre Arien viel beliebter als die der Primadonnen«, protestierte sie, aber der Protest klang in ihren eigenen Ohren fad, denn ihre Phantasie hatte sich bereits an seinen Worten entzündet. Wie wäre es, ohne nachzudenken, einzutauchen in das klare Wasser eines ihr unbekannten Bergsees. Die Melodien, die sie gelernt hatte, in reinem Zustand erklingen zu lassen, voller Ehrlichkeit und Natürlichkeit, und die Zuhörer mit sich in den Olymp zu nehmen? Ihre Kunst sollte in den Zuhörern Gefühle entfachen, sonst nichts, und warum sollte ihr das nicht als Frau gelingen? Sie stellte sich vor, selbst unter dem Sternenhimmel jenes Theaters zu stehen, wo sie ihm zum ersten Mal begegnet war und sich in die Magie der Bühne verliebt hatte. Sie malte sich aus, wie das Publikum ihr zujubelte und es nicht mehr nötig war, ständig Ausreden zu erfinden und Kastratenempfindsamkeit vorzuschützen, wenn ein Impresario zur Feier einer Premiere das Ensemble danach in eine Schenke einlud. Aber sie wollte auch nicht als Knopfmacherin enden, wie es einer der berühmtesten Primadonnen geschehen war, als sie alt wurde.
»Bisher«, entgegnete Giacomo. »Wer sagt, dass du nicht bessere Bedingungen aushandeln kannst? Deine Stimme ist wirklich außergewöhnlich. Da du den gleichen Umfang wie ein Kastrat hast, verdienst du auch die gleiche Bezahlung.«
»Kastraten werden überall in Europa gesucht, weil es sie nur in Italien gibt, und es gibt weit weniger als singende Frauen«, argumentierte sie, mit sich selbst so gut wie mit ihm. »Sie sind viel, viel seltener, und auch deswegen gibt man mehr für sie aus.«
»Oh, man will auch Sängerinnen und Komödiantinnen«, sagte er, und ein Zug von Bitterkeit legte sich um seine Mundwinkel. »Selbst im fernen Russland, in Sankt Petersburg, oder am königlichen Hof von England. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.«
Deine Mutter, dachte sie, sprach es jedoch nicht aus. Entscheidend war, was dieses Beispiel bewies. Wenn Zanetta Casanova mit ihren begrenzten Gesangsleistungen nach Sankt Petersburg engagiert worden war, dann konnte eine Frau wie sie auf den Bühnen der Welt mindestens so gefragt sein wie ein beliebiger Sänger.
»La Calori«, sagte sie langsam.
»La Calori«, bestätigte er. »Calori … Calore«, spann er den Gedanken weiter und veränderte ihren alten Nachnamen zu dem Wort für »Wärme.« Er ließ seine Hände über ihre Schultern wandern. »Du würdest das Sprichwort, dass ein Juwel Feuer hat, ohne Wärme zu verbreiten, Lügen strafen. Weißt du, Calore ist ein viel besserer Name für dich als Bellino. Oder Angiola. Nein! Angiola erinnert mich zu sehr an Angela, und Angela war ein grausames Biest von einer Pfarrersnichte. Allerdings mit zwei sehr liebenswerten Schwestern.«
Sie stieß ihm ihren Ellbogen in die Seite.
»Von meinen Schwestern musst du allerdings zukünftig die Finger lassen, wenn das mit uns von Dauer sein soll. Oder würde es dir gefallen, wenn ich mich deinen Brüdern an den Hals werfe?«
»Ich habe bei Cecilia und Marina zwar ein vielversprechendes, obgleich frühzeitiges Talent für die Liebeskunst entdeckt, und sie wissen durchaus schon, dass sie auf ihrem ›Reichtum‹ – hm – sitzen, so dass du dich nicht um sie sorgen musst, sollte dieser Hinweis deiner schwesterlichen Fürsorge entsprochen haben. Ich nehme aber mit Befriedigung zur Kenntnis, dass du von ›Dauer‹ sprichst, und kann dir versichern, dass nur noch
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