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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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einen anderen Mann umzubringen.
    Oder doch? War es das, was ihr gefehlt hatte? Nein, denn sie besaß es jetzt, das Verlangen zu töten. Die Contessa und Falier. Was sie Giacomo wirklich übelnahm, war doch, dass er wie immer die Wahrheit ausgesprochen hatte. Sie wäre auch jetzt nicht bereit, für ihre Mutter solche Opfer zu bringen, und würde ihr Dasein um nichts in der Welt mit dem Leben tauschen, das sie mit ihrer Mutter im Haushalt von Falier gehabt hätte. Und es stimmte auch, dass ihr bei seinem Heiratsantrag das einfiel, was ihr an seiner Art zu leben nicht gefiel und hinderte, grenzenlos glücklichen Jubel in ihr auszulösen, wie das auf der Bühne und in Romanen immer geschah.
    Der Palazzo Podesta ragte immer noch rotbacken in ihr Sichtfeld, und sie beschloss, dort sofort um die Ausstellung neuer Papiere zu bitten. Es hatte keinen Sinn, noch länger zu warten. Bellino war tot, Zeit, ihn endgültig zu begraben, und die Calori auch offiziell zum Leben zu erwecken.
    Sie war bei weitem nicht die einzige Besucherin, doch sie hatte Glück und geriet an einen Beamten, der sich noch an ihren Vater erinnern konnte und, seiner betretenen Miene nach zu urteilen, an das Gerede über ihre Flucht mit Appianino. Falls er etwas über die Stellung ihrer Mutter bei Professor Falier zu bemerken hatte, behielt er es dankenswerterweise für sich.
    Als er etwas davon murmelte, sie habe wohl in der Ferne ihr Glück gemacht, nickte sie nur. Erst, als er deutlicher wurde und von dem langen, harten Tag sprach, den er gehabt hatte, verstand sie, dass er für das prompte Ausstellen ihrer Papiere ein Geschenk haben wollte, und zahlte. Wieder fiel ihr Giacomos Leichtsinn ein, und ihre Gefühle und Gedanken bewegten sich erneut im Kreis. Er war doch ein kluger Mann, warum konnte er denn nicht sehen, wie töricht sein Verhalten war? Selbst Petronio, ach was, selbst Marina und Cecilia wussten immerhin, dass man Rechnungen bezahlen musste und nicht ewig einfach in die nächste Stadt übersiedeln konnte, wenn es wieder so weit war und ihnen niemand mehr einen Kredit gab. Wie stellte er sich das vor, wenn sie erst in Neapel sang? Dass sie auch dann eine Erkältung vorschützen würde, um mit ihm zu verreisen und, zum Teufel damit, für die nächsten Jahre dann nicht mehr in den Ort der Schulden zurückkommen zu können. Was wäre, wenn dort die wichtigste Bühne für Sänger auf der ganzen Welt war?
    Vielleicht. Vielleicht stellte er sich genau das vor.
    Ihr war kalt, ihr war elend, ihr drehte sich der Magen um, wenn sie an ihre Mutter und Falier dachte, und so gab es nur eines, was sie tun konnte. Zum ersten Mal seit Jahren wieder spazierte sie durch die Arkaden, nahm von der Porta Saragozza aus den Weg über den Portico di San Luca und ließ ihre Stimme zu Medeas furiosesten Racheschwüren hoch- und niederklettern, alle sechshundertsechsundsechzig Bogen entlang, bis sie erschöpft, schweißdurchtränkt und, wie sich herausstellte, von einer Schar Studenten und Gassenjungen umgeben am Santuario angekommen war.
    »Das, hm, war wundervoll«, sagte einer der älteren Studenten, der wie Giacomo in Ancona den Rock eines Abbate trug. »Zuerst dachte ich, Sie müssten ein neuer Kastratensänger an unserer Oper sein, aber Sie sind …« Er verstummte verlegen.
    »Eine Frau«, sagte Calori, um dem Herumgerede ein Ende zu machen.
    Er errötete, doch offensichtlich konnte er so wenig wie die meisten Studenten einem Wortspiel widerstehen. »Nein«, sagte er, »eine Dame. Die Prima Donna in dieser Stadt ohne Sängerinnen.«

    Wie sich herausstellte, musste sie nicht zu Fuß in das Zentrum der Stadt zurückkehren. Eine der Tragesänften, die dem Adel und den reichsten der Kaufleute vorbehalten waren, musste ihr wohl schon eine Zeitlang gefolgt sein, und die Gestalt, die ihr nun entstieg, war ihr vertraut.
    »Ich dachte mir doch, dass es Ihre Stimme und keine andere sein kann«, sagte Don Sancho Pico und küsste ihr die Hand.
    Wie sich herausstellte, hatte er ihren Brief erhalten, jedoch nicht gewusst, dass sie sich in Bologna aufhielt, und ihr daher nach Rimini zurückgeschrieben. In Bologna habe er »einige Dinge zu regeln«, wie er vage meinte, und war auf dem Weg zurück zu seinem Quartier gewesen, als er ihre Stimme gehört hatte.
    »Was eine angenehme Überraschung war, zumal wir Sie hier in Bologna wohl nicht mehr auf der Bühne hören werden«, schloss er mit einem Blick auf ihr Kleid. Sie wusste nicht, ob sie das als Feststellung, Zustimmung oder

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