Verfuehrung
Die Gesellschaft einer Person, die so schamlos war, sich einem Kastraten an den Hals zu werfen und mit ihm die Stadt zu verlassen, wäre für sie unerträglich.«
Oh, er war immer noch zornig. Heute Nacht würde es eine dieser Nächte werden. Lucia zitterte, halb in Angst, halb in Erwartung davor.
»Dann will ich Sie auch nicht länger mit meiner Gegenwart belästigen«, sagte die junge Fremde mit dem gleichen zornigen Ton. »Mein Besuch gilt meiner Mutter, nicht Ihnen.« Sie kam auf Lucia zu und nahm sie bei der Hand. Sie trug Handschuhe, wie sich das für eine Dame schickte, feine Handschuhe aus dünnem Leder. Lucia starrte auf ihre eigenen Hände, auf die Adern, die immer deutlicher hervortraten, und die braunen Altersflecken auf der Haut. Sonst gab sie so sehr auf sich acht, denn Falier schätzte es gar nicht, wenn sie sich gehenließ, und er war auch so großzügig, ihr Färbemittel für ihre Haare zu bezahlen. Aber ihr Hals und ihre Hände verrieten sie.
»Mama«, sagte ihre ehemalige Tochter drängend, »komm mit mir. Lass uns unter vier Augen reden.«
»Meine Tochter Angiola hat mich Mama genannt«, erwiderte Lucia und hörte ihre Stimme klirren wie gefrorenes Eis im Winter, »aber sie wusste immer, welchen Respekt man seinen Eltern schuldet, wenn man keine Bäuerin ist, und hätte mich nie geduzt.«
Sie konnte die junge Frau zusammenzucken fühlen.
»Sie hätte mich auch nicht verlassen in der Stunde der Not.«
Die junge Frau stand still da. Dann sagte sie: »Ich hatte gute Gründe, und jedes Wort, das bisher in diesem Raum gefallen ist, erinnert mich daran. Aber Mutter – das ist die Vergangenheit. Über die Gegenwart möchte ich mit dir – mit Ihnen sprechen. Und die Zukunft. Nur nicht hier.«
Falier hatte Lucia keineswegs losgelassen, und seine Hände ruhten immer noch auf ihrem Nacken. Sie waren stärker und vertrauter als die schlanken Finger in Leder, die an ihrer Hand zogen.
»Was auch immer Sie Ihrer Mutter zu sagen haben, das können Sie hier und jetzt aussprechen, Signorina Calori. Falls es Geldsorgen sein sollten, dann bin ich als der Arbeitgeber Ihrer Mutter ohnehin der richtige Adressat.«
»Ich verdiene selbst Geld«, sagte Angiola – sagte die junge Frau ernst.
»Das kann ich mir gut vorstellen«, entgegnete Falier und lachte. Die junge Frau ignorierte ihn und versuchte erneut, Lucia näher zu sich zu ziehen.
»Mutter«, sagte sie, »Sie brauchen nicht mehr … Sie müssen ihm nicht mehr als Haushälterin dienen. Verstehen Sie, ich habe …«
»Sie wollen doch nicht eine verheiratete Frau von ihrem Gatten und ihrem Sohn fernhalten?«, fragte Falier höhnisch. Die junge Fremde starrte ihn an, ehe ihr Blick wieder zu Lucia zurückflog. Lucia fühlte ein eigenartiges Gemisch aus Scham, Stolz und Erbitterung in sich aufflammen. Es war ihr fremd geworden, und sie wünschte sich, die Fremde würde wieder gehen. Es hatte gedauert, sich mit dieser Wirklichkeit abzufinden, und nun war es die ihre geworden, ihre Welt, in der sie ihren Frieden hatte. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass es je eine andere gegeben hatte, und beinahe hasste sie die Fremde dafür, dass sie es aussprechen musste.
»Don Silvio war so gütig«, murmelte sie. »Es war nicht nur meine Tochter, die meinen Ruf ruiniert hat. Ich – ich habe ein Kind erwartet, nach all den Jahren. Ich bekam nicht nur eine Stellung als Haushälterin in diesem Haus, ich bekam auch einen Gatten.«
»Meinen Kutscher«, sagte Falier. »Er ist dem kleinen Luis ein stolzer Vater. Verstehen Sie jetzt, wie sehr dieses Haus Ihrer Mutter zur Heimat geworden ist, Signorina Calori?«
Es war Lucias Heimat. Sie hatte die Schlüssel, die Magd und die zwei Knechte gehorchten ihr, und die Herrin, nun, das Mädchen war nicht so eigensinnig wie Angiola, und auch nicht eifersüchtig, sondern dankbar, so wie sich Lucia das von Angiola erhofft hatte. Anfangs war es demütigend, so demütigend gewesen, sich die Frau eines Kutschers nennen zu müssen, aber inzwischen schmerzte es nicht mehr, und ihr Mann war auch kein bösartiger Mensch. Ganz wie die Herrin tat er, was ihm gesagt wurde, und wenn er ihren kleinen Jungen auf seinen Schultern trug, dann hatte sie ihn sogar aufrichtig gern. Was Falier betraf, so umschrieb sein Wort den Anfang und das Ende jeder ihrer Tage. Sie fürchtete ihn und betete ihn an, und wenn es je anders gewesen war, so wollte sie das nicht mehr wissen. Wie konnte nur jemand von ihr erwarten, all das
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