Verfuehrung
einen Vertrag für das Theater von San Carlo in Neapel, und meine Zeit des Versteckens ist vorbei. Nicht irgendwann in der Zukunft, sondern sofort. Du hast mich herausgefordert, mein Leben als Frau zu meistern, auch und gerade auf der Bühne, in einer unserer ersten Nächte, weißt du noch? Du hattest recht.«
Wenn man die Hand auf eine Glocke legte, die gerade geschlagen worden war, dann war es, als ob all das Vibrieren zum Erliegen kam, der Schall geschluckt wurde, nicht von der Luft um die Glocke, sondern von dem eigenen Körper.
»Ist das«, fragte er langsam, »eine Bitte, mit dir nach Neapel zu kommen … Oder eine Bitte, genau das nicht zu tun?«
Ihre Augen, die dunkel, warm und zärtlich wie die Nacht sein konnten, glichen gerade jetzt zwei undurchdringlichen Juwelen.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Und ich sage das nicht, um dir auszuweichen. Ich sage es, weil du mir das Herz geteilt hast. Manchmal bin ich wütend auf dich und denke, dass es nicht Liebe ist, nicht Liebe sein kann, weil Liebe nicht so schnell kommt und weil ich doch genau wusste, wie du bist. Du warst immer ehrlich und hast nichts vor mir verborgen. Dann wieder denke ich, dass Liebe kommt wie eine gewaltige Flutwelle, ohne Vorwarnung, und alle Einwände hinwegspült und ich nur nach Entschuldigungen suche, wie du gesagt hast, weil ich Angst habe, völlig weggespült zu werden, so sehr, dass nichts von mir übrig bleibt. Meine Mutter – du hast recht, ich würde nicht mein Leben für sie geben, aber sie ist meine Mutter, und doch ist kaum noch etwas von ihr da, von der Mutter, an die ich mich erinnere. Es ist, als sei sie von Falier ausgehöhlt worden bis aufs Mark. Und ich denke mir, ist das, war das Liebe zwischen den beiden? Nein, so kann Liebe nicht sein!«
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Als sie wieder aufschaute, war von ihrer Undurchdringlichkeit nichts mehr übrig, und ihre Augen waren offene Wunden.
»Mama Lanti kann das nicht passieren. Sie hat mich nicht zur Welt gebracht, ich kenne sie nur ein paar Jahre, und wenn Appianino ihr nicht Geld gegeben hätte, dann hätte sie mich nie bei sich aufgenommen. Aber sie ist immer sie selbst; nichts und niemand könnte sie je verändern. Du weißt, woran du bist mit ihr, und es ist beides ehrlich, der Hunger nach Geld und die Zuneigung. Manchmal denke ich, es ist ein Segen, so zu sein, weil sie ganz ist, ungeteilt, verstehst du? Aber das kann ich auch nicht sein. Wenn ich so wie sie wäre, dann wäre ich gleich in der ersten Nacht mit dir ins Bett gegangen und wäre dann fröhlich meines Wegs gezogen. Wenn ich so wie meine Mutter wäre, dann würde ich dich jetzt anflehen, mich zu heiraten, und dir schwören, dir ans Ende der Welt zu folgen, wenn du das willst, ganz gleich, ob ich singe oder nicht. Aber ich kann das nicht. Keines von beidem.«
Es gab in Giacomo einen Teil, der wünschte, sie würde ihn anlügen. Er kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass es seiner Eitelkeit mehr schmeichelte, wenn sie die Liebe zu ihm zum höchsten aller Güter erklärte, und wusste doch auch, dass die Vorstellung, für den Rest seines Lebens die Verantwortung für sie zu tragen, ihm schon seit dem Moment Angst machte, als er sie halb scherzhaft, halb im völligen Ernst gebeten hatte, ihn zu heiraten. Was ihn genauso verstörte wie bezauberte, war, dass er nicht in der Lage war, sie anzulügen. Er hatte sich ständig in irgendwelche Mädchen und Frauen verliebt, seit er zwölf Jahre alt gewesen war, doch die Empfindung, ohne Haut zu leben, eine jener Figuren aus bloßgelegten Sehnen und Adern zu sein, die man an den Universitäten besichtigen konnte, wenn man sich illegalerweise in die medizinischen Vorlesungen schmuggelte, diese Empfindung hatte er nur bei ihr.
»Du hast mir das Herz ebenfalls geteilt«, sagte er rauh. »Manchmal stelle ich mir vor, mit dir zu leben, und es ist das Paradies; du in meinen Armen, und eine Welt, die wir für uns entdecken. Und dann stelle ich mir vor, mit dir zu leben, und es ist alles, was ich nie wollte – das Leben meines Vaters. Ich stelle mir vor, wie du auf der Bühne stehst und der nächste Gönner darauf wartet, dir vorgestellt zu werden, oder wie wir einen Salon betreten, und es heißt, La Calori und ihr Gatte, weil sich niemand auch nur die Mühe macht, meinen Namen herauszufinden.«
Ich bin nicht deine Mutter, hatte sie erst vor kurzem zu ihm gesagt, und doch wurde ihm jetzt, in diesem Moment erst klar, dass beides, der Traum
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