Verfuehrung
die ihm bekannt vorkam, auch wenn er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ihr Gang, die Haltung ihres Kopfes, all das war ihm so vertraut, dass er seine Schritte beschleunigte, um herauszufinden, ob er sich täuschte oder nicht. Sie war alleine unterwegs, was ihn ein wenig verwunderte, denn wenn ihn seine Erinnerung nicht zum Narren hielt, handelte es sich um Bettina, die Schwester seines alten Lehrers, Dottore Gozzi, Bettina, die ihm zuerst das Wunder der Weiblichkeit offenbart hatte. Nur hätte Dottore Gozzi es seiner Schwester nie gestattet, ohne Begleitung durch die Straßen Paduas zu laufen, von denen Venedigs ganz zu schweigen.
»Bettina!«, rief Giacomo, und sie drehte sich um. Er erschrak. Bettina war nur zwei Jahre älter als er, was bedeutete, dass sie immer noch eine junge, blühende Frau hätte sein sollen. Stattdessen hatte sie den verhärmten Gesichtsausdruck, den er aus seiner Zeit in Kalabrien von den Frauen kannte, die bereits Kinder zu Grabe getragen und Ehemänner überlebt hatten. Das Kleid, das sie trug, offenbarte sich jetzt, da er näher trat, als mehrfach geflickt, etwas, das die stolze Signorina Gozzi höchstens in ihren eigenen vier Wänden, aber niemals in der Öffentlichkeit getragen hatte. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. Als sie den Mund öffnete, sah er, dass von ihren ebenmäßigen Zähnen, die er einmal gerühmt hatte, bereits zwei fehlten.
»Giacomo«, sagte sie, und nur ihre Stimme war unverändert, immer noch die des Mädchens, das ihn geneckt und bezaubert hatte. Er nahm sich zusammen und küsste ihr die Hand.
»Noch immer die Herzensbrecherin«, sagte er und lächelte sie an.
»Noch immer der Lügner«, sagte sie und erwiderte sein Lächeln, doch der Versuch, sich unbefangen und sorglos zu geben, erlosch sofort, als ihre Mundwinkel zu zittern begannen. Sie schaute über ihre Schulter, als befürchte sie, von jemandem beobachtet zu werden.
»Giacomo«, sagte sie, »kannst du nicht so tun, als hättest du mich nicht erkannt? Ich – ich will nicht, dass du mich so siehst. Bitte, vergiss, dass wir uns begegnet sind, und geh deines Wegs.«
»Dann würde ich es verdienen, dass mich jemand in den nächsten Kanal wirft«, sagte er, rief eine Gondel und sagte dem Gondoliere, er möge sein Boot zunächst einmal einfach aufs Geratewohl steuern. Dann half er Bettina einzusteigen und sprang selbst in die Gondel. Niemand achtete auf sie; Paare in Gondeln waren in Venedig so alltäglich wie überschwemmte Keller und Kanalratten. Wie er gehofft hatte, half das Bettina, ruhiger zu werden und ihm ihre Geschichte zu erzählen. Bald nachdem er Padua verlassen hatte, hatte sie geheiratet, nicht einen Mann von Rang und Würden, wie ihr Bruder immer gehofft hatte, sondern einen Schuster.
»Ich – ich war unvorsichtig, und dann war ich schwanger«, gestand sie mit einem schiefen Lächeln ein. »Es blieb mir keine andere Wahl, als Signora Pigozzo zu werden.«
Ihr Bruder, der sie, so unterschiedlich die Geschwister auch waren, immer geliebt hatte, war bei ihrer Mitgift großzügig gewesen; sie hatte genügt, um dem Schuster Pigozzo zu helfen, sich ein eigenes Geschäft in Venedig einzurichten, wo er sich mehr Kundschaft als in Padua erhoffte. Aber entweder waren die Verlockungen der großen Stadt zu viel für ihn, oder er hatte sein Wesen in Padua verborgen. In jedem Fall war Pigozzo jetzt ein Trinker und Spieler, von der Mitgift war nichts mehr vorhanden, neue Einkünfte gab es auch kaum, da er das Geschäft hatte verkaufen müssen und Glück hatte, hin und wieder unter den vielen Reisenden, die durch Venedig kamen, welche zu finden, die ihre Schuhe rasch ausgebessert zu sehen wünschten. Das Kind war gerade ein Jahr alt geworden und dann gestorben; das nächste war bereits eine Fehlgeburt gewesen. Seither war Bettina nicht mehr schwanger geworden.
»Und ich werde es wohl auch nie mehr werden«, fügte sie hinzu. Ihre Hände hatten sich auf ihren Bauch gelegt. »Es – er hat mich dahin getreten, weißt du, und dann, als das Kleine heraus war, hat der Arzt gesagt, da ist etwas kaputt, da kommt nichts mehr.«
Mit einem Mal verstand Giacomo, wie Calori sich gefühlt haben musste, als sie ihre Mutter in Bologna wiederfand. Das Entsetzen, die ohnmächtige Wut, die ihn gepackt hatte, musste er niederringen, damit er weiter mit Bettina sprechen konnte, statt dem dringenden Wunsch nachzugeben, ihren Gemahl zu erwürgen. Jede Frau hätte ihm unter diesen Umständen leidgetan, aber Bettina, die
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