Verfuehrung
lebensfrohe Bettina, die für ihn das Schönste an seinem Schülerdasein gewesen war, so im Elend vorzufinden, war unerträglich. Er nahm ihre Hände in die seinen und erkannte, dass die Schatten unter ihren Augen weder von Kohle noch von Schlaflosigkeit herrührten. Es waren die bereits abheilenden Überbleibsel von Schlägen.
»Kannst du nicht zu deinem Bruder zurückkehren?«
»Das würde ich gerne«, sagte sie stockend. »Oh, Giacomo, du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich wünschte, ich hätte Padua nie verlassen und wäre noch heute in meinem alten Zimmer! Aber Pigozzo ist mein Gatte. Was soll mein Bruder da tun? Wenn ich ihn um mehr Geld bäte, würde es Pigozzo doch nur gleich vertrinken. Wenn ich von ihm fortliefe, müsste mein Bruder mich zurückschicken, das ist das Gesetz.«
Alle Gesetze sind von Männern für Männer eingerichtet, hörte er Calori sagen, im Hafen von Ancona, an dem Tag, als sie ihn überzeugt hatte, sich doch in einen Mann vernarrt zu haben. Wenn sie sich wieder begegneten, würde er ihr das Kompliment machen, das Frauen am liebsten hörten, und zugeben, dass sie recht hatte. Hier und jetzt allerdings musste er sich etwas einfallen lassen, um Bettina zu helfen, denn Gesetze, so entschied Giacomo, waren dazu da, umgangen zu werden, wenn sie Menschen im Weg standen.
Der Gedanke an jenen Tag in Ancona hatte ihn auch an das Stückchen Commedia dell’Arte erinnert, Calori als Dottore, er als Pantalone, und Bettina vor ihm mahnte ihn an seine Kindheitsträume, den Wunsch, Arzt zu werden, ehe er erst Recht und dann Theologie studieren musste. Der Einfall, der Giacomo kam, formte sich fast von selbst.
»Bettina«, sagte er langsam, »wann kommt dein Gatte nach Hause?«
Der Schuster Pigozzo war sich eigentlich sicher, seinem Weib, dem Miststück, klargemacht zu haben, dass sie sich keinen Arzt mehr leisten konnten, ganz gleich, wie sie vor Schmerzen winselte, die sie seit ihrer Fehlgeburt hatte. Eine Fehlgeburt, die ganz und allein ihre Schuld gewesen war. Er konnte sich zwar nicht mehr genau erinnern, was in der Nacht geschehen war, als es passierte, aber wenn er sie wirklich getreten hatte, dann hatte sie es herausgefordert, sie mit ihrer aufgesetzten Sprechweise, als sei sie etwas Besseres als er, und ihren ständigen Beschwerden. In Padua, da hatte es ihr noch gefallen, dass er ein ordentlicher Mann war, nicht so ein Jünglein wie die Studenten, die um sie herumscharwenzelten und sich von einem Weib sagen ließen, wo sie ihren Schwanz hinzustecken hatten. In Padua, da war sie dankbar gewesen, dass er sie überhaupt noch wollte, sie und ihr Bruder, der sonst damit hätte leben müssen, dass die Schwester nicht nur vom Teufel besessen war, sondern auch noch als Hure galt, mit einem vaterlosen Balg. Und wie wurde ihm dafür gedankt, dass er sich den Hut aufgesetzt hatte, in den er bereits geschissen hatte, statt darauf zu beharren, ein Mann heirate nur eine ehrbare Jungfrau? Mit Beschwerden, nichts als Beschwerden. Kein Wunder, dass ihm gelegentlich die Hand ausrutschte, wenn er über den Durst trank.
Jetzt allerdings beschwerte sie sich zur Abwechslung nicht, obwohl er die Flasche Rum noch in der Hand hielt, die er einem Briten mit durchgelaufenen Sohlen abgeluchst hatte. Nein, sie faselte etwas davon, dass ein Freund ihres Bruders, der Dottore Irgendwas von Irgendwo, zu Besuch gekommen sei. Als ob sich ein rechtschaffen müder Handwerker all diese Namen merken könnte.
Der Dottore, der ganz wie die Kerle aussahen, die in den Straßen Ärzte spielten für die Commedia, schwarzer Mantel und eine Brille auf der Nase, der plapperte ebenfalls etwas von alter Freundschaft mit dem Dottore Gozzi. Dann hielt er inne und fragte besorgt, in der geschwollenen Tonart der besseren Leute, die Pigozzo schon von jeher zuwider gewesen waren, wenn sie nicht mit klingender Münze seine Taschen füllten: »Verzeihung, mein Freund, aber ich konnte nicht umhin, zu bemerken, dass Ihr Atem ein wenig unregelmäßig … Könnte es sein, dass Sie sich nicht wohl fühlen?«
»Wie soll einer das auch, bei weinerlichen Weibern und ungeladenen Gästen«, knurrte Pigozzo.
»Auch Ihre Gesichtsfärbung … und Ihre Nase … könnte es sich da um einen Fall von monstrum horrendum informe ingens handeln?«
»Was?«
»Verzeihen Sie den Übereifer meines Berufs, aber wir können nun einmal keinen Leidenden vor uns sehen, ohne sofort einzugreifen. Wären Sie so gütig, mir die Zunge herauszustrecken?«
»Ich
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