Verfuehrung
»Konstantinopel? Ist das dein Lebensziel? Giacomo, du willst doch nicht etwa deinem Glauben untreu werden?«
»Sie haben mich ertappt. Ich möchte ein Moslem werden und mich mit einem Harem bei den Türken niederlassen. Nein, Exzellenz, ich bin einfach nur neugierig, und es gibt danach noch sehr viele Orte, die ich sehen möchte, aber Konstantinopel zuallererst. Liegt uns Venezianern das nicht seit Marco Polo im Blut?«
»Und das ist dein Lebensplan? Orte kennenlernen? Neugierig sein? Giacomo, ich habe es dir nicht gesagt, weil du ohnehin schon zu eitel bist, aber deine Lehrer an der Universität hielten dich für einen der begabtesten und klügsten Studenten, den sie je hatten. Du kannst doch deine Geistesgaben nicht einfach so verschwenden und in den Tag hineinleben.«
»Doch«, sagte Giacomo, nicht herausfordernd, sondern staunend, weil ihm klarwurde, dass er es so gemeint hatte und dass er es tatsächlich wahr werden lassen konnte. Er hatte immer geglaubt, ein festes Ziel finden zu müssen, weil alle anderen Menschen das taten. Aber er war anders als alle, wollte anders sein.
»Genau das kann ich, und das werde ich«, betonte er nachdrücklich.
Der Abbate barg sein Gesicht in den Händen.
»Konstantinopel«, stöhnte er.
»Neapel zuerst, wenn das besser für Euch ist«, sagte Giacomo mit einer Spur Mitleid. »Bevor ich den Bosporus erkunde, möchte ich noch einen kurzen Besuch im Süden machen.«
»Aber Neapel wird von den Spaniern beherrscht. Nun, so gut wie, jedenfalls. Als Deserteur wirst du umgehend verhaftet werden. Wenn du einen ihrer Offiziere getötet hast, dann erst recht!«
Giacomo machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Habe ich je behauptet, desertiert zu sein?«
»Oh, tu, was du willst«, sagte der Abbate abgestoßen. »Renne in dein Unglück. Schön, ich werde dir eine kurze Kommission für Korfu besorgen, aber damit …«
»…waschen Sie Ihre Hände in Unschuld, was mich betrifft? Nun, das hat biblisches Vorbild, Exzellenz.«
Wie zu Beginn ihres Gespräches nach seiner Heimkehr sah er den Abbate zusammenzucken.
»Ich habe immer nur dein Bestes gewollt, Giacomo. Du könntest dankbarer sein.«
Giacomo erhob sich und zog mit einer schnellen Handbewegung seine Weste gerade.
»Dankbarkeit ist ein edles Gefühl, Exzellenz. Und ich dachte, wir hätten festgestellt, dass meine Herkunft hässliche Flecken hat.«
* * *
Der große Porpora, der Mann, der Caffarelli und Farinelli ausgebildet hatte und der berühmteste Gesangslehrer Europas war, hatte Neapel, wie man ihr erzählte, erst vor einem Monat verlassen, sonst hätte Calori zuallererst bei ihm vorgesprochen, sowohl, um selbst die Ehre seiner Bekanntschaft zu haben, als auch, um um seine Vermittlung zu bitten, denn der derzeitige Primo Uomo am Teatro San Carlo war kein anderer als Caffarelli. Neben Farinelli der unbestritten berühmteste Sänger der Welt.
»Der schlagwütigste ist er allemal«, sagte einer der besser angezogenen Neapolitaner, der mit Bittschriften in der Hand vor Caffarellis Palazzo wartete, zu Calori. Sie war als Mann gekleidet, weil sie so leichter durch die Stadt spazieren konnte, um Neapel kennenzulernen. Petronio hatte sie damit geneckt, Angst vor ihrer ersten offziellen Begegnung mit Caffarelli zu haben, doch damit aufgehört, als er ihren Gesichtsausdruck sah und merkte, dass seine Neckerei Wahrheit in sich barg. Es war einfach etwas anderes, aus der Ferne kühnes Selbstvertrauen zu zeigen, oder hier zu sein und zu wissen, dass sie demnächst nicht mit irgendeinem guten Sänger, sondern einem der größten die Bühne teilen würde, dem Sänger, für dessen Stimme Händel seine Arie Ombra Mai Fu geschrieben hatte und den die Londoner zum Gott erhoben hatten. Und er war ein Kollege, der obendrein nicht für seine Umgänglichkeit berühmt war.
»Er hat sich doch tatsächlich in einer Kirche geprügelt«, sagte der Bittsteller zu Calori. »Während eines Nonnengelübdes. Eine der Töchter der großen Familien unserer Stadt leistete ihr ewiges Gelübde, der Vater hatte zu ihrer Ehre Caffarelli bestellt, aber eben auch einen anderen Kastraten, und Cafferelli fängt während des Gottesdienstes tatsächlich eine Prügelei mit ihm an. Unsereins wäre dafür sofort eingesperrt worden und wegen Gotteslästerung vor Gericht gekommen. Aber Caffarelli? Der König wollte, dass er für seinen Bruder in Spanien bei dessen Hochzeit singt, also bekam Caffarelli nur ein paar Tage Hausarrest, und der arme Tropf, den er
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