Verfuehrung
dass sie darauf hätte gefasst sein müssen. War nicht auch ihr verstorbener Gemahl um viele Jahre älter gewesen, als ihre Eltern diese Ehe für sie arrangierten? Und natürlich wollte Falier eine Jungfrau. Ganz gleich, mit wem sie sich die Zeit vor und nach der Ehe vertrieben, alle Männer wollten eine jungfräuliche Gemahlin.
Die Enttäuschung und Galle, die sie erfüllten, brachten sie beinahe um.
Sie stellte sich vor, wie sie ihn zurückwies. Wie er dann dank seines Einflusses dafür sorgte, dass man sie nicht mehr in den Kreisen Bolognas empfing, auf die es ihr ankam. Wie sie sich verzweifelt um Mieter bemühte, wenn der Kastrat erst einmal abgereist war, und erneut auf jüdische Pfandleiher angewiesen war, bis auch diese ihr kein Geld mehr leihen würden, weil es nichts mehr zu verpfänden gab. Es würde anfangen damit, dass sie sich die Haare selbst schneiden und brennen musste, und damit enden, dass sie sich als Putzmacherin oder Nähfrau verdingte und noch Glück hatte, wenn sie Kunden fand. Entweder man gehörte dem reichen Bürgertum an, oder man war eine Bettlerin, so war es doch.
Lucia hatte davon geträumt, Frau Professore Falier zu sein. Der sorgenfreien Zukunft und seines schönen Hauses wegen, ja, aber auch, weil sie sich selbst noch zu jung fühlte, um den Rest ihres Lebens im Witwenkleid und in einem kalten Bett zu verbringen. Sie war bei Angiolas Geburt nur ein Jahr älter als ihre Tochter jetzt gewesen. Sie war gesund und war sicher, noch Jahrzehnte zu leben, wenn Gott keine Seuche in die Stadt schickte. Jahrzehnte voller Ärmlichkeit und allein, wie es jetzt aussah. Und Angiola? Ohne Mitgift würde ihr kaum ein zweiter Mann von Faliers Ansehen und Stand einen Heiratsantrag machen.
Falier lächelte, beugte sich vor und legte ihr mit der größten Vertraulichkeit die Hand auf das Knie.
»Teuerste Freundin«, wiederholte er, »zwischen uns wird sich nichts ändern. Sehen Sie nun, dass ich nur das Beste will für Sie und Ihre Tochter?«
Ein Teil von Lucia wollte empört aufstehen und ihm ins Gesicht schlagen. Aber ein anderer Teil verspürte zu ihrer Scham auch etwas wie Erleichterung. Er hatte also nicht geheuchelt, als er ihr auf jede erdenkliche Weise zu verstehen gab, dass er sie begehrenswert fand. Sie war nicht die Einzige, die jene Begegnungen genossen hatte, vor, während und nachdem sie sich geliebt hatten. Es machte die Erniedrigung, zugunsten ihrer eigenen Tochter beiseitegeschoben zu werden, wenigstens etwas wett.
Natürlich war es unerhört, was er da vorschlug, aber war es wirklich so schlecht? Ihre Zukunft und die Angiolas würden gesichert sein, nicht ganz auf die Weise, wie sie sich das erträumt hatte, aber gesichert. Außerdem bedeutete sein »zwischen uns wird sich nichts ändern« doch gewiss, dass er Angiola nur dem Namen nach heiraten und ein paar Jahre warten wollte. Angiola würde daher nicht nur ein gesichertes Leben, sondern noch eine längere Mädchenzeit haben.
Und ihr eigenes Bett würde inzwischen nicht leer sein.
Als er eine Stunde später ging, hatte sie ihm die Hand ihrer Tochter so gut wie versprochen.
* * *
Ein versiegelter Brief aus Venedig an Appianino konnte viele Bedeutungen haben, doch Angiola war sich sicher, dass es sich dabei um sein nächstes Engagement handelte. Er hatte nun fast ein Jahr lang in Bologna gelebt, länger, als es ursprünglich geplant war, und er hatte ihr immer gesagt, dass Venedig und Neapel für einen Sänger außerhalb des Kirchenstaats die besten und angesehensten Möglichkeiten boten.
Es tat trotzdem weh.
Sie war versucht, den Brief zu verstecken. Wer auch immer in Venedig an ihn geschrieben hatte, würde erzürnt über eine ausbleibende Antwort sein und sein Angebot vielleicht nicht wiederholen. Ohne ein konkretes Angebot würde Appianino Bologna aber gewiss nicht verlassen.
Doch nein, das durfte sie nicht tun. Und nicht, weil es eine Lüge war. Sie belog ihre Mutter wegen Appianino mittlerweile recht häufig, die nicht gemerkt hatte, wie sie immer deutlichere weibliche Formen bekam und ihre Pickel verlor. Sich bei ihren Singübungen als Junge zu verkleiden außerhalb des Karnevals bedeutete ja schon, alle Menschen zu belügen, die ihr begegneten. Also nahm sie es mit dem neunten Gebot schon längst nicht mehr so genau, obwohl sie bis ans andere Ende der Stadt lief, um in einer Kirche zu beichten, wo die Priester weder sie noch ihre Mutter kennen konnten. Aber sie konnte nie vergessen, wie ihr Appianino gesagt hatte,
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