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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Giacomo dem Haushofmeister nichts berichtet – er wäre lieber im Boden versunken. Der Abbate Grimani hatte also bereits mit dem übelwollenden Priester gesprochen und war offenbar bereit, dessen Partei zu ergreifen. Sollte Don Tosello am Ende doch das Beichtgeheimnis gebrochen haben? Einen Moment lang war Giacomo versucht, über die Ungerechtigkeit der Welt in Tränen auszubrechen. Dann kam ihm ein jäher Einfall. Er holte tief Luft und bemühte sich seinerseits um eine Miene von gekränkter Unschuld.
    »Euer Gnaden«, sagte er, »weit davon entfernt, die Theologie zu vernachlässigen, habe ich seit langer Zeit an meiner ersten Predigt gearbeitet! Ich hatte gehofft, sie in San Samuele halten zu dürfen, wo es doch meine Pfarrkirche ist, unsere Pfarrkirche, die Kirche, in der ich getauft und so in die Gemeinschaft unserer heiligen Mutter Kirche aufgenommen wurde. Aber statt mich zu ermutigen, hat der Pfarrer, der doch mein Mentor sein sollte, mich absichtlich so grausam entstellt, dass ich nicht auf eine Kanzel gehen kann, ohne die Gemeinde in Gelächter ausbrechen zu sehen, und so unsere heilige Mutter Kirche zum Gespött mache. Hochwürden, können Sie sich vorstellen, was für ein Gefühl es ist, so lange auf einen so großen Augenblick hinzuarbeiten und dann derart erniedrigt zu werden?«
    Der Abbate runzelte die Stirn. »Davon, dass du eine Predigt vorbereitet hast, wusste ich ja gar nichts«, sagte er misstrauisch. »Das hat Don Tosello nicht erwähnt.«
    »Es sollte eine Überraschung werden, für Sie. Er hat es wohl absichtlich vergessen«, sagte Giacomo und borgte sich den Augenaufschlag aus, mit dem seine Mutter in ihrer Rolle als Emilia Oder Die Verfolgte Tugend so viel Erfolg gehabt hatte.
    »Hm. Das … hm. Wenn das wahr ist, dann hat Don Tosello dich vielleicht zu streng behandelt.«
    Offenbar hatte Don Tosello sich doch an das Beichtgeheimnis gehalten und nur allgemein über Giacomos Weltlichkeit gezetert. Doch jetzt war nicht der Moment, einen erleichterten Seufzer von sich zu geben.
    »Ich kann nicht in einer Perücke predigen«, sagte Giacomo mit seiner bekümmertsten Miene. »Das entspräche nicht dem Geist hoher Spiritualität. Doch was soll ich nur tun?«
    Eine Stunde später war er wieder zu Hause, wo seine Großmutter inzwischen Tintenfische vom Markt zubereiten ließ und Francesco immer noch herumlungerte.
    »Ich dachte, du musst heute bei deinem Lehrmeister im Theater sein.«
    »Jemand hat meine Perücke gestohlen«, sagte Francesco bedeutungsvoll, als achte überhaupt jemand darauf, wie er aussah, wenn er im Theater die Bühnenbilder bekleckste. »Und, hat unser Vormund dir auch gesagt, dass es dir nur recht geschah?«
    »Nein«, sagte Giacomo so erhaben wie möglich. »Er hat versprochen, zu meiner ersten Predigt in San Samuele zu kommen. Da ich für diese die Kirche würdig vertreten muss, wird er mir außerdem einen geschickten Friseur bezahlen und diese Ausgabe dem Täter bei seiner nächsten Zuwendung abziehen.« Dann brach sein Versuch, den älteren Bruder herauszukehren, zusammen, und er fügte triumphierend hinzu: »Was sagst du jetzt?«
    »Welche Predigt?«, fragte Francesco und legte damit seinen Finger auf den wunden Punkt.
    »Die, die ich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden schreiben muss«, gestand Giacomo ein. Endlich zeigte sein Bruder so etwas wie Respekt.
    »Und kannst du …?«
    »Eine Predigt zu halten ist auch nichts anderes, als geistreich zu sprechen und Leute zu beeindrucken«, sagte Giacomo und dachte mit der alten Mischung aus Groll und Bewunderung an seine Mutter. »Und wenn ich das nicht kann, dann verdiene ich eine Glatze, aber da, wo die Tonsur eigentlich hingehört.«
    Er hatte nicht die Absicht, viel Zeit über Bibelstellen zu vergeuden, wie das jeder andere Prediger tat. Niemand konnte sagen, ob ein Friseur sein Aussehen wirklich retten würde, also musste Giacomo, statt darauf zu hoffen, unauffällig zu sein, in die entgegengesetzte Richtung gehen und in jeder Beziehung außergewöhnlich wirken. Das war ohnehin ein verheißungsvoller klingendes Ziel. Also suchte er sich ein Zitat von Horaz aus und schrieb sich die Finger heiß. Zwischendurch kam eine Botschaft aus der Pfarrei, die besagte, dass Don Tosello die Predigt, die so unerwartet von seiner Kanzel gehalten werden würde, doch vorher zu hören wünsche, um sicher zu sein, dass auch keine Ketzereien darin enthalten waren. Also galt es, eine Zweitfassung zu erstellen, die vor Mahnungen der

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