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Verfuehrung

Verfuehrung

Titel: Verfuehrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Abend vorbei ist. Mir ist es ernst, ich habe wirklich gehört, dass Spanier strengere Moralvorstellungen haben als hierzulande üblich, und ich möchte Don Sancho mit meiner Stimme beeindrucken, nicht mit meiner Familie abschrecken.«
    »Wer hat dir denn Don Sancho vorgestellt, ha?«, gab er zurück, doch er drückte ihr die Hand und versprach, ihr den Gefallen zu tun.
    Als Don Sancho mit seinem neuen Gast eintrat, saß Bellino bereits am Klavier, das nicht ihr, sondern dem Gasthofsbesitzer gehörte und das immer wieder neu gestimmt werden musste, weil sie nicht die Einzige war, die es benutzte. Sie war noch beschäftigt, das A zu erproben, als Don Sanchos Begleiter, offenbar nicht gesonnen zu warten, bis er vorgestellt wurde, mit einer Tenorstimme und einem leicht venezianischen Akzent fröhlich erklärte: »Meine Damen, werte Herren, ich muss um Entschuldigung bitten, wenn mein Streit mit dem Wirt vorhin bis zu Ihnen vorgedrungen ist. Don Sancho hat mir als ein wahrer Christ sofort die Absolution erteilt und statt der Buße gleich die Seligkeit versprochen, in Ihrer bezaubernden Gegenwart Musik genießen zu dürfen. Da aber ein solcher Segen von Ihnen und nicht von ihm erteilt wird, möchte ich zumindest mein mea culpa am richtigen Ort aussprechen.«
    Auf diese unterhaltende und leicht blasphemische Einführung hin dachte Bellino: Da hört sich jemand wirklich gerne reden. Erst dann blickte sie von der Tastatur auf.
    Der junge Mann, der Mama Lanti gerade die Hand küsste, wirkte nur zwei, höchstens drei Jahre älter als Bellino selbst, wobei er fast einen Kopf größer war als sie alle. Er trug in der Tat den Rock eines Abbate, doch sonst war wenig Kirchliches an ihm. Sein volles, dunkles Haar war nach der neuesten Mode frisiert, und die Seidenhosen, die er trug, lagen eng genug an, um zu zeigen, dass er mit seinen langen Beinen und dem festen Hintern solche Schnitte nicht zu fürchten brauchte. Er hatte eine lange römische Nase und hohe Wangenknochen, aber seine Augenbrauen waren unregelmäßig, die eine ein wenig höher als die andere, was seinem Gesicht einen ständig fragenden Ausdruck verlieh. Am bemerkenswertesten waren jedoch seine Augen, die ihr zunächst haselnussbraun erschienen, dann, als er sich von ihrer Mutter zu ihr wandte und daher etwas mehr ins Licht trat, eher grünlich. Sie hatte diese Augenbrauen und die Augen, die je nach Lichteinfall ihre Farbe wechselten, schon einmal gesehen, dachte Bellino, vor langer, langer Zeit. Zuerst glaubte sie, es müsse sich um einen Bekannten aus Bologna handeln, und ihr wurde kalt, aber dann half ihr die Erinnerung wieder auf die Sprünge. Der meist stumme Junge aus dem Theater mit dem blauen, sternenübersäten Deckengemälde und der Kolumbine, die mit ihrem Singen und Scherzen das Publikum in ihren Bann geschlagen hatte, als Angiola Calori zum ersten und zum letzten Mal gemeinsam mit ihren Eltern in einem Theater gewesen war.
    Angiola Calori ist tot, dachte Bellino und hoffte, dass sein Gedächtnis schlechter war als ihres. Wenn Cecilia, Marina und Petronio sie als ihren Bruder akzeptierten, dann gab es keinen Grund, warum dieser Mann ein kleines Mädchen, dem er einmal in seinem Leben begegnet war, mit einem erwachsenen Kastraten in Verbindung bringen sollte. Das sagte ihr der Verstand, aber das hohle Gefühl in ihrem Magen, der schnellere Pulsschlag entsprang der kaum besiegbaren Furcht, dass er den Mund öffnen und fragen würde, ob sie nicht das Mädchen war, das sich in einem venezianischen Theater verlaufen hatte. Sie zwang ihren Mund, das freundliche Lächeln für Fremde zu formen.
    »Mein Sohn Bellino«, sagte Mama Lanti hilfsbereit.
    »Giacomo Casanova«, stellte er sich ihr vor. »Sekretär des Kardinals Acquaviva und in seinem Auftrag unterwegs nach Konstantinopel.«
    »Für einen Kardinal arbeiten Sie?«, wiederholte Mama Lanti entzückt. »Ja, so ein feiner Herr. Setzen Sie sich doch zu uns.«
    Bellino wäre am liebsten im Boden versunken. Wenn Mama Lanti einmal eine Geldquelle gewittert hatte, dann gab es meistens kein Halten. Dabei konnte es sehr wohl sein, dass sie die Dinge schlimmer statt besser machte. Don Sancho war derjenige, der wichtig war, der Mann, der ihnen allen helfen konnte, ein Mann von Adel, der Geld und Beziehungen hatte. Wohingegen dieser angebliche Kardinalssekretär auf der Durchreise bisher nur bewiesen hatte, dass er armen Wirten die Hölle heißmachen und dann die Dinge so drehen konnte, dass er dafür zu einem geselligen

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