Verfuehrung auf Probe
wie jung du bist. 1994 haben hier die olympischen Winterspiele stattgefunden. Warst du damals schon auf der Welt.“
„In dem Jahr bin ich in die Schule gekommen. Wenn wir nicht in Schweden sind, dann ist das hier Norwegen. Richtig?“
„Richtig. Das hättest du an den Brettern der Häuser erkennen können.“
Aha.
„Hier in Norwegen werden die Bretter vertikal angebracht, in Schweden horizontal.“
Stimmt, Eric ist ja Architekt. Aus gewissen Gründen bringe ich seinen Beruf jedoch ausschließlich mit Folterkammern in Verbindung.
Wir fahren durch einen kleinen Ort, in dem es viele kleine, bunte Holzhäuser, ein kleines Einkaufszentrum und einige Landhotels gibt. Es sind nur wenige Autos unterwegs und noch weniger Menschen. Eine Gruppe Männer kommt uns mit Skiern auf den Schultern entgegen. Ich habe noch nie Wintersport gemacht. Eric will doch nicht etwa mit mir Skilaufen? Bevor ich ihn danach fragen kann, sind wir durch Lillehammer durch und Eric biegt links ab. Und dann wird es ganz fürchterlich. Er fährt einen Berg rauf. Klar, da sind Straßen, aber die sind doch weiß und es geht wirklich sehr steil bergauf. Vielleicht sollte ich mich einfach hinlegen und die Augen schließen, um das Elend nicht mitansehen zu müssen, aber zugleich ist die Landschaft so wunderschön, dass ich nicht anders kann, als immerzu nach draußen zu sehen.
Immer weiter geht es aufwärts. Die bunten Häuser, die anfangs noch dicht an dicht standen, werden immer weniger, bis schließlich nur noch Wald kommt, durchbrochen von baumfreien Stücken, wo man bis hinunter in den erleuchteten Ort sehen kann. Es sieht fast aus wie bei uns in Frankreich, wenn die Weihnachtsbeleuchtung aufgebaut ist.
„Wir sind da“, verkündet Eric. Die ganze Zeit während der Auffahrt haben wir nicht gesprochen und ich bin froh, dass er endlich etwas sagt. Ich kann allerdings nicht sehen, wo wir angekommen sein sollen. Es sieht immer noch so aus wie es die ganze Zeit über ausgesehen hat. Hohe Fichten und Schneehänge. Sonst nichts. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass manche Leute zum Schneezelten fahren. Ich hoffe nicht, dass Eric so etwas vorhat, denn dann werde ich das Auto nehmen und selbst wieder zurück in den Ort fahren.
An der nächsten Straßenwindung biegt Eric rechts in eine breite Einfahrt ab. Es sieht aus, als würde man in den Wald fahren, was man in gewisser Weise auch macht, doch plötzlich ist da ein breites Tor vor uns, und Eric steigt aus, um es zu öffnen. Gleichzeitig gehen überall Lampen an und Eric fährt den Wagen auf ein Grundstück wie ich es in meinem Leben noch nicht gesehen habe.
Wir befinden uns auf einer Plattform auf einem richtig hohen Berg. Mitten auf der Plattform steht ein rotes Holzhaus mit vertikal angebrachten Brettern. Mit einem Mal ist meine ganz Wut und Angst verflogen. Ich bin nur noch hingerissen. Ich kann gar nicht mehr sitzen bleiben. Ist das schön! Ich springe aus dem Wagen. Es ist ein robuster Geländewagen mit Reifen wie an einem LKW.
Ich stehe mitten im tiefen Schnee. Bis zu den Knöcheln sinke ich ein. Die Luft ist eisig kalt, aber auch unglaublich klar. Tief atme ich ein. So etwas Schönes habe ich noch nie erlebt. Wie ein Kind laufe ich durch den dicken, weichen Schnee, rechts an dem roten Haus vorbei und bleibe wie erstarrt stehen. Die Aussicht ist atemberaubend. Ich sehe über ein Tal, in den von Lichtern blinkenden Ort und auf einen riesigen, eingefrorenen See.
„Das ist der Mjøsa-See.“
Ich zucke zusammen. Eric steht plötzlich neben mir. Der Schnee schluckt sämtliche Geräusche.
„Als Kind habe ich die Ferien hier verbracht. Mein Vater war Norweger. Er hat mir das Haus vererbt.“
Jetzt bin ich aber baff. „Du siehst nicht aus wie ein Norweger.“
„Bin ich auch nicht. Ich habe einen französischen Pass und meine Mutter war Französin.“
„War?“ Ich hoffe nicht, dass ich gerade in einer Wunde herumstochere.
„Meine Eltern sind beide bei einem Hausbrand umgekommen. Sie und meine Schwester. Ich war aber schon 24. So alt wie du jetzt bist.“
Trotzdem ist es als griffe eine eisige Hand um mein Herz . Wie schrecklich. Er hat seine ganze Familie verloren. Nur er ist davongekommen. Das muss grausam sein. Er tut mir so leid. „Hast du daher die Narben in deinem Gesicht?“
„Ja. Und das Ohr ist mir dabei abhandengekommen. Und anschließend meine Frau, beziehungsweise meine damalige Freundin. Sie mag lieber ganze Ohren.“
„ So wie du das sagst, klingt es fast lustig“,
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