Verführung der Nacht (German Edition)
Ich gehe zu dem Spiegel am Kopfende des Bettes um mal wieder festzustellen, dass ich mich nicht sehen kann. Lilly beobachtet mich und schüttelt nur den Kopf.
Du hast Mimis Trank nicht? , fragt sie mich erstaunt.
Mimis Trank?
Oh je, Süße, du bist noch nicht lange ein Vampir oder?
Nein, erst seit…5 Tagen. Haben wir wirklich schon Mittwoch?
Donnerstag. In zwei Stunden geht die Sonne auf. Dann gebe ich dir jetzt einen Tropfen, weil ich glaube ein Blick in den Spiegel würde dir gut tun.
Und damit verschwindet sie wieder in ihrem begehbaren Kleiderschrank und kommt bald darauf mit einem kleinen antiken Fläschchen zurück. Die Flüssigkeit darin ist blau und sie braucht einige Momente um den Korken zu ziehen.
Zunge raus , fordert sie mich auf und ich tue es nach einigem Zögern.
Lilly lässt wirklich nur einen einzigen Tropfen über den Rand des Behälters laufen, auf meine Zunge. Es schmeckt nach nichts und ich spüre auch nichts. Doch als Lilly mir zunickt und ich mich zum Spiegel umdrehe, sehe ich einen grauen Schimmer darin.
Er wird langsam schärfer, Konturen und Farben werden sichtbar. Irgendwann erkenne ich mich, so wie wenn man in einen beschlagenen Spiegel blickt. Und nach einigen Momenten ist das Bild klar und ich sehe mich zum ersten Mal wieder.
Und ich muss ehrlich sein: Ich habe mich selbst kaum wieder erkannt.
Ich sehe jünger aus, gerade mal wie 25 und meine Haut ist ungewöhnlich glatt, wie Porzellan. Mein Haar ist zerzaust, lockig, es reicht mir in wirren Strähnen bis zur Hüfte und meine blau/grauen Augen strahlen unnatürlich hell. Sie leuchten fast in der Dunkelheit, so wie Kyles strahlendes Blau.
Doch mein Blick ist müde, erschöpft und verwirrt. Meine Lippen sind trocken und gerissen. Die Strickjacke sitzt mir viel zu eng am Körper und der Knopf, der meine Brüste zusammen presst, sieht aus, als würde er jeden Moment abspringen. Oh je, so kann ich mich auf gar keinen Fall vor den Männern zeigen.
Hast du wirklich nichts anderes, vielleicht etwas größeres, zum anziehen? , frage ich und versuche mein Haar mit meinem Fingern zu zähmen.
Nein, tut mir Leid , antwortet Lilly und reicht mir eine Bürste.
Ich beginne mein Haar zu kämmen und betrachte mich dabei im Spiegel. Ich sehe mich, doch ich sehe nicht Mary. Etwas in mir ist verloren gegangen, etwas fehlt, doch ich weiß nicht was es ist.
Es liegt an der Blutsverbindung , sagt die Rothaarige und sieht mich im Spiegel an. Du hast einen Teil von dir der Verbindung geopfert, ebenso wie Kyle, und du wirst dich erst in seiner Nähe vollständig fühlen.
Ich stöhne innerlich, weil ich schon wieder diese Gedankenmauer vergessen habe. Und weil ich unfreiwillig einen Teil von mir geopfert habe. Hätte ich gewusst, was für Folgen Sex in Verbindung mit Blut hat, wäre das alles nie passiert, dann hätte ich mich nicht mit Kyle verbunden.
Lilly lacht fröhlich als sie meine Gedanken auffängt und umarmt mich von der Seite.
Du bist noch so menschlich , sagt sie voller Bewunderung. Und das macht dich noch hübscher und anziehender als du schon bist. Ein Vampir, der noch einen Teil seiner Menschlichkeit besitzt, ist für uns unglaublich schön. Weil er das hat, was wir nicht mehr besitzen, was uns im Laufe der Jahre verloren gegangen ist. Denn wir Vampire sind Raubtiere, Geschöpfe der Nacht, die von ihrem Verlangen nach Blut geleitet werden. Je länger wir leben, desto mehr vergessen wir, wie es war, ein Mensch zu sein und desto mehr gleichen wir dem Tier in uns.
Eine dunkle Trauer liegt in ihrem Blick, aber auch eine tiefe Bewunderung.
Wie lange lebst du schon? , frage ich sie.
Ich wurde 1882 geboren und 1904 von Dorian verwandelt , kommt die Antwort. Er hat mich aus dem Elend gerettet, in das ich geboren wurde und aus dem ich nicht entfliehen konnte. Ich bin die Einzige, mit der er eine Verbindung eingegangen ist obwohl er mit vielen anderen Frauen schläft.
Ich sehe in ihrem Gesicht, wie ihre Gedanken zu jener Zeit wandern, doch sie verschließt ihren Geist vor mir.
Moment mal , sage ich und gehe in Gedanken noch mal durch, was sie gesagt hat. Dorian schläft mit mehreren Frauen und du weißt davon? Und du bist trotzdem noch bei ihm?
Natürlich, wieso nicht? , fragt sie und sieht mich verständnislos an. Er liebt mich, ich bin die Einzige, die er liebt und mit der er eine Blutsverbindung hat. Mit den anderen Frauen schläft er einfach nur. Er braucht das, so ist Dorian einfach und ich will nicht, dass er
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