Verführung der Unschuld 2
der Altstadt stammen aus dem Mittelalter und der Renaissance. Und da hinten«, Giulia streckte den Arm aus, um in die Richtung zu deuten, die sie meinte. »Da hinten, siehst du die Stadtmauer? Die ist so im 16. oder 17. Jahrhundert angelegt worden. Heute ist das eine Promenade für Fußgänger.«
Mariella hielt sich die Hand über die Augen, um die Sonne abzuschirmen. »Schaut nicht übel aus. Hast du eine Ahnung wie hoch die Stadtmauer ist? Von hier oben wirkt die gar nicht mal so klein.«
»Ähm, du kannst Fragen stellen!«
Mariella schmunzelte und Giulia musste lachen.
»Also, wenn ich mich recht erinnere, hat mein Onkel so was in der Art gesagt, die Stadtmauer sei um die zehn bis zwölf Meter hoch und dreißig Meter breit.«
»Beeindruckend. Dein Onkel kennt sich wohl aus. Ist er etwa Fremdenführer in Lucca?«
Giulia schüttelte den Kopf.
Für einen Augenblick geriet sie in Versuchung, Mariella ihre komplette Geschichte zu erzählen. Aber nein, das war bestimmt keine gute Idee. Sollte Federico nicht plaudern, so war es auf jeden Fall besser, Gras über diese Angelegenheit wachsen zu lassen. Bisher machte Mariella nicht den Eindruck, als ob sie wüsste, dass Giulia die Geliebte der
Gemelli
gewesen war. Und vielleicht wäre sie dann auch nicht mehr so nett, sondern eifersüchtig auf etwas, das glücklicherweise der Vergangenheit angehörte.
»Nein, Onkel Bruno ist kein Fremdenführer. Er interessiert sich nur für die Geschichte der Stadt und kennt sich ziemlich gut aus. Ich … habe eine Zeitlang für meinen Onkel gearbeitet. Er betreibt einen exklusiven Cateringservice.«
Die beiden Frauen stiegen wieder ein.
»Aha, hast du eine Ausbildung bei ihm gemacht?«
»Nein, nur ausgeholfen.« In letzter Sekunde fiel Giulia noch eine passende Ergänzung ein, die hoffentlich weiteres Nachfragen erübrigte: »Ferienjob.«
»Ah so.«
Scheinbar ging ihre Rechnung auf. Mariella stellte keine weitere Frage, sondern ließ ihre Augen über die variationsreiche Landschaft schweifen, die sich beidseits der Straße präsentierte.
Zehn Minuten später erreichten die beiden Frauen die Stadt. Geübt nahm Giulia eine Route bis zur Altstadt, bog mal links, mal rechts in den kleinen Straßen ab, und eroberte zuletzt mit ihrem kleinen Wagen problemlos eine enge Parklücke.
»Den Weg finde ich nie wieder. Du kennst dich hier gut aus, hm?«, fragte Mariella, während sie ausstiegen.
Giulia lachte. »Das sollte ich. Immerhin war ich mit meinen Eltern oft genug zu Besuch hier und nun lebe ich ja auch schon einige Monate in dieser Stadt.«
»Ach, du stammst gar nicht aus Lucca?«
»Nein, aber mein Onkel lebt hier mit seiner Familie.« Inklusive Tante Teresa, auf deren kühle Gesellschaft Giulia nur allzu gern verzichtete. Die wenigen Wochen, in denen sie in einer stickigen Kammer unter dem Dach geschlafen und in Gegenwart ihrer Tante permanent gespürt hatte, wie unerwünscht sie in deren Haus war – das reichte als unangenehme Erfahrung für ein ganzes Leben.
Mariella hängte sich bei Giulia ein, als wären sie schon seit langem beste Freundinnen. Giulia war gespannt, wie lange es ihre Schwägerin auf den hochhackigen Sandaletten aushalten würde, ehe sie über die teilweise grob gepflasterten Wege jammerte. Auch ohne diese hohen Absätze hätte sie Giulia um einige Zentimeter überragt.
»Und deine Eltern, wo leben die?«, fragte Mariella neugierig weiter.
»In Florenz. Ich habe meine ganze Kindheit in Florenz verbracht.«
»Eine sehr schöne Stadt. Ich war mal mit meinem Vater dort. Vermisst du Florenz?«
Giulia wiegte den Kopf hin und her. »Manchmal schon.« Das anfängliche Heimweh hatte inzwischen nachgelassen. Jetzt war sie hier zuhause, bei Lorenzo und ihrem Kind. Der einzige, der dieses wohlige Gefühl trüben könnte, war Federico.
Um vom Thema abzulenken deutete Giulia schnell auf ein paar interessante Fassadendetails, und Mariella blieb tatsächlich stehen, um ein wenig genauer hinzusehen. »Sieh nur …«
»Nicht übel, solange man in so einem alten Haus nicht wohnen muss. Da nagt der Zahn der Zeit dran. Und schau nur, die kleinen Fenster. Da drinnen ist es bestimmt ziemlich dunkel. Ob es darin auch spukt?«
Lachend stimmte Giulia ihr zu. »Wobei es auf das Gebäude ankommt. Der Palazzo unserer Schwiegereltern und die Landhäuser der Morenos sind ja auch schon recht alt, aber alles andere als dunkel und unheimlich.«
Mariella verdrehte die Augen. »Nicht so uralt, und vor allem renoviert. Über das
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