Verfuehrung im Mondlicht
Fassade verschwunden. Es war offensichtlich, dass diese Frau vom Leben bitter enttäuscht worden war. Concordia vermutete, dass ihr größter Ehrgeiz jetzt darin bestand, dass die Schülerinnen unter ihrer Fuchtel lernten, dieselbe traurige Realität für ihre eigene Zukunft zu erwarten, die Edith Pratt offenbar in ihrem Leben erfahren hatte.
»Mein Beileid zu dem schmerzlichen Verlust Eures Gemahls, Mrs. Thompson«, sagte Edith Pratt.
Sie klang kein bisschen anteilnehmend. Sollte jemals so etwas wie wirkliches Mitgefühl durch Edith Pratts Adern geflossen sein, so war es sicher schon Vorjahren aus ihr herausgesickert.
»Danke, Miss Pratt.«
Concordia ließ den Blick unter ihrem schwarzen Netzschleier verstohlen durch den Raum gleiten. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt und schmucklos bis auf zwei Fotografien und eine gerahmten Tafel.
Eines der Fotos zeigte, wenig überraschend, die Königin. Victoria trug die strenge Kluft, die sie vor Jahrzehnten nach dem Tod ihres geliebten Albert angelegt hatte.
Das zweite Foto zeigte eine teuer gekleidete, mit Juwelen behängte Frau von ungefähr fünfundfünfzig Jahren. Unter dem Foto prangten in verschnörkelten Goldbuchstaben die Worte: Mrs. Hoxton, Unsere geliebte Wohltäterin.
Die Tafel hinter dem Schreibtisch trug die Überschrift: »Goldene Regeln für dankbare Mädchen«. Darunter war eine einschüchternde Liste von zwanzig Ermahnungen aufgeführt. Concordia las die erste.
Ein dankbares Mädchen ist gehorsam.
Sie verzichtete darauf weiterzulesen.
Edith Pratt faltete die Hände auf der Schreibtischplatte und betrachtete sie mit höflicher Neugier.
»Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«, fragte sie.
»Ich bin auf eine höchst delikate Angelegenheit gestoßen, Miss Pratt. Sie betrifft einige Enthüllungen, die sich im Testament meines Mannes fanden. Ich kann doch gewiss auf Eure Diskretion zählen?«
»Ich bin seit vielen Jahren Schulleiterin, Mrs. Thompson. Und von daher gewohnt, delikate Angelegenheiten angemessen zu behandeln.«
»Ja, selbstverständlich.« Concordia rang sich einen tiefen Seufzer ab. »Vergebt mir. Ich versuche immer noch, mich von dem Schock zu erholen, versteht Ihr?«
»Welcher Schock?«
»Es scheint so, als hätte mein Gatte vor einigen Jahren ohne Wissen der Familie ein uneheliches Kind gezeugt.«
Die Pratt schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Unglücklicherweise sind solche Geschichten nur allzu verbreitet.«
»Mir ist bewusst, dass Ihr in Eurer Stellung hier in Winslow häufiger mit den ... Früchten männlicher Verantwortungslosigkeit konfrontiert werdet.«
»Männer bleiben Männer, Mrs. Thompson.« Pratt schnaubte angewidert. »Ich fürchte, dass nur wenig Aussicht besteht, ihre grundlegende Natur zu verändern. Nein, meiner Meinung nach liegt die einzige Hoffnung, die Zahl der unehelichen Kinder auf dieser Welt zu verringern, bei uns Frauen. Man muss die jungen Mädchen lehren, Zurückhaltung und Selbstdisziplin in allen Bereichen des Lebens zu üben, vor allem, wenn es um diese dunkleren Leidenschaften geht.«
»Die dunkleren Leidenschaften?«
»All diese närrischen Frauen, die sich willentlich von den Schmeicheleien der Männer in die Irre führen lassen, werden immer den Preis dafür zahlen, ebenso wie ihre unerwünschten Nachkömmlinge.«
Die Bitterkeit in der Stimme der Schulleiterin sprach Bände. Concordia hätte eine größere Summe Geldes darauf gewettet, dass irgendwann in ihrer Vergangenheit auch Edith Pratt den treulosen Versprechungen eines Mannes zum Opfer gefallen war.
Concordia räusperte sich. »Ja, wie ich schon sagte ...«
»Seid versichert, dass wir hier in der Winslow-Armenschule für Mädchen mit äußerster Hingabe danach streben, jeder unserer Schülerinnen die Dogmen der Selbstdisziplin, der Zurückhaltung und der Selbstbeherrschung einzuflößen«, unterbrach Edith Pratt sie.
Concordia unterdrückte ein Erschauern und rief sich ins Gedächtnis, dass sie hier war, um das Innere der Schule und dieses Büros kennen zu lernen sowie Edith Pratt zu beobachten, und nicht, um sich in einen philosophischen Diskurs über die angemessene Methode zur Erziehung junger Mädchen zu stürzen.
»Ein bewundernswertes Ziel, Miss Pratt«, sagte sie neutral.
»Und keine leichte Aufgabe, das versichere ich Euch. Junge Mädchen neigen zu außerordentlichem Übermut und leichtsinniger Begeisterung. Hier in Winslow unternehmen wir alle Anstrengungen, diese Art von Charakterschwächen
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