Verfuehrung im Palast der Liebe
Der gute Mann wirkte regelrecht gehetzt. Keira erging es nicht viel anders. Das hier war so etwas wie ein Test für ihre Fähigkeiten. Sie hatte das Gefühl, dass Jay nicht nur mitgekommen war, um den Fortschritt der Arbeiten zu überprüfen, sondern insgeheim darauf hoffte, dass sie versagen würde.
Nach der obligatorischen Zeremonie des Begrüßungstees führte Mr. Singh sie schließlich in den Vorraum der Fabrikhalle, wo die von Keira in Auftrag gegebenen Regale ausgestellt waren.
Mit Erleichterung erkannte Keira, dass die Möbel genau das waren, was sie sich vorgestellt hatte. Sie überprüfte sie gründlich – die Qualität der Lackierung, die Stabilität der Regale.
„Ist es gut geworden?“, fragte der Fabrikbesitzer gespannt.
„Ja“, bestätigte Keira.
Ein Anruf lenkte Mr. Singh für einen Moment ab, und während er den Vorraum verließ, um auf seinem Handy zu telefonieren, fuhr Keira mit der flachen Hand über die Unterseite der Regalretter. Sie verzog das Gesicht, als ein winziger Splitter sich in ihre Fingerkuppe schob, und hastig zog sie die Hand zurück, um sich den Schaden anzusehen.
„Zeigen Sie mal“, verlangte Jay barsch.
Ohne den Fabrikbesitzer schien ihr der Raum plötzlich kleiner geworden zu sein. „Es ist nur ein Splitter“, tat sie ab, doch Jay griff nach ihrer Hand, bevor sie wusste, wie ihr geschah. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er sich die kleine Wunde, dann entfernte er das winzige Holzstückchen mit einer geschickten Bewegung.
Ein Blutstropfen bildete sich, Keira bemerkte es nicht einmal. Dass Jay noch immer ihr Handgelenk umfasste und festhielt, hypnotisierte sie. Jay stand so nahe vor ihr, dass sie das Schlagen seines Herzens hören konnte.
Ihr eigener Puls begann zu rasen. Jay sah auf die kleine Verletzung hinunter, dann hob er Keiras Hand langsam zu seinem Mund.
Ihr stockte der Atem, ein Beben durchlief sie. Hitze loderte in ihr auf, als Jay den Tropfen mit der Zunge ableckte. Sie schloss die Augen, hoffte, das Gefühl würde ewig dauern. Sie wollte …
Sich nähernde Schritte rissen sie zurück in die Wirklichkeit. Der Fabrikbesitzer hatte seinen Anruf beendet. Er stellte eine Frage, doch Keira war zu benommen, sodass Jay schließlich die Antwort gab.
Wie konnte eine solch kleine Geste Emotionen in ihr auslösen, die sie entzweirissen?
9. KAPITEL
Sie waren auf dem Rückweg nach Ralapur, als Keira zufällig in den Seitenspiegel schaute und eine dunkle Gewitterfront hinter sich am Horizont erkannte.
Jay war sich dessen wohl ebenfalls bewusst, denn er trat das Gaspedal durch. „Sieht aus, als würden wir in einen Platzregen kommen.“
„Ich dachte, die Monsunzeit sei vorüber“, meinte sie und beobachtete mit gerunzelter Stirn, wie die schweren Wolken sich immer mehr zusammenbauschten und mit unglaublicher Geschwindigkeit über den Himmel auf sie zurasten.
„Ist sie auch“, bestätigte Jay. „Dieses Gewitter ist wohl ein Nachzügler. Das passiert manchmal. Halten Sie sich fest“, warnte er, als er noch mehr beschleunigte und der Wagen über die unbefestigte Straße rumpelte. „Normalerweise fahre ich nicht so schnell, aber ich möchte nicht in dem Platzregen gefangen sein. Wenn die Schleusen sich öffnen, könnte diese Straße sich leicht in einen reißenden Fluss verwandeln.“
Keira nickte nur stumm. Der Himmel hinter ihnen war jetzt fast schwarz. Die wenigen vereinzelt stehenden Bäume bogen sich im aufziehenden Sturm. Vogelschwärme stiegen auf, stießen gellenden Schreie in die Luft. Blitze zuckten vom Himmel, teilten das Schwarz. Der grollende Donner ließ Keira zusammenfahren.
Ein Blick in den Seitenspiegel zeigte ihr, dass das Gewitter immer näher kam. Es holte sie ein.
„Vorsicht!“
Jay musste einer Kuh ausweichen, die auf die Straße gelaufen war. Gleichzeitig schlang er einen schützenden Arm um Keira. Der Sicherheitsgurt hielt sie, doch sie klammerte sich instinktiv an Jays Arm.
„Tut mir leid.“ Seine Stimme klang gepresst und kurz angebunden. Er zog den Arm zurück, so als könne er den Körperkontakt nicht schnell genug abbrechen. Keira sollte eigentlich das gleiche Gefühl haben.
„Ich bin nur froh, dass nichts passiert ist.“ Angestrengt bemühte sie sich um einen normalen Konversationston. Endlich löste sie auch die Finger von seinem Arm und musste sich beherrschen, sich nicht wieder an ihn zu klammern, als ein mächtiger Blitz den bleigrauen Himmel erhellte.
Dicke Regentropfen prasselten auf das Wagendach und die
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