Verfuehrung in Las Vegas
schmiedeeisernen Tisch auf Hals Terrasse Platz. Die Meeresbrise zupfte an Kates Haar, während sie den von Hal bestellten Tee trank und einfach zuhörte. Schon nach dem ersten Satz begriff sie.
„Der Spieler, von dem ich erzählt habe, hatte einen kleinen Sohn. Die beiden checkten eines Sommers zusammen ein, und Mary merkte sofort, dass da irgendetwas nicht in Ordnung war. Der Kleine war abgemagert, seine Augen waren glanzlos und seine Kleidung schmutzig.“ Mit wehmütigem Lächeln stellte Hal seine Tasse ab. „Immer wieder fragte Mary mich: Warum hatten wir seinen Vater seit ihrer Ankunft nicht mehr gesehen? Und warum verließ der Kleine nie das Zimmer? Das Zimmer war schon seit Tagen nicht mehr geputzt worden, weil an der Tür das Schild mit der Aufschrift ‚Bitte nicht stören‘ hing. Trotzdem habe ich mir nicht allzu viele Gedanken gemacht, bis ich den kleinen Strolch dabei erwischte, wie er Geld klauen wollte. Weil er halb durchdrehte, sperrte ich ihn in mein Büro und wollte die Polizei rufen, doch Mary bestand darauf, dass wir uns zuerst das Zimmer ansahen.“ Noch immer erschüttert berichtete Hal: „Das Bett des Vaters war unberührt. Er hatte sich gleich am ersten Tag davongemacht und den kleinen Kerl sich selbst überlassen.“
„Was ist dann passiert?“ Kate war hin und her gerissen: Einerseits hätte sie Hal gern erzählt, was sie wusste, doch andererseits vertraute Nicolas darauf, dass sie nichts verriet.
„Wir nahmen ihn auf“, erwiderte Hal nur. „Zuerst hatte er schreckliche Albträume, und als Mary ihn endlich zum Baden überreden konnte, sahen wir, dass er am ganzen Körper Blutergüsse hatte. Billy – so hieß der Junge – war sehr intelligent, konnte aber nicht lesen. Nach einer Weile fasste er langsam Vertrauen zu uns“, fuhr er lächelnd fort. „Irgendwann war er wie ein Sohn für uns geworden. Mary war der Meinung, dass wir vielleicht deshalb nie eigene Kinder bekommen hatten – weil Billy eine Familie brauchte und wir diese Familie waren. Natürlich hätten wir die Behörden informieren müssen, aber Mary und ich waren so glücklich. Es war einfach schön, wie Billy langsam etwas zunahm und nicht mehr so abgemagert war.“ Er verstummte und schenkte Kate und sich Tee nach. „Nach etwa drei Monaten, als ich mit ihm lesen übte, hat er seinen ersten ganzen Satz gelesen. Natürlich war ich unheimlich stolz und sagte ihm das auch. Und Billy krabbelte auf meinen Schoß und legte die Arme um mich. Das war das erste Mal, dass ich ihn umarmen durfte.“
Kate sah Tränen in den Augen des alten Mannes glänzen.
„Das hat mich berührt und berührt mich noch immer – ich schäme mich nicht, es zuzugeben. An diesem Tag fühlte ich mich wie ein Vater.“
„Das waren Sie ja auch“, stellte Kate sanft fest.
„Leider war es nicht von Dauer, denn eines Tages kam der Spieler zurück“, fuhr Hal fort. „Monate zuvor hatte er einmal angerufen und gesagt, seinetwegen könnten wir Billy behalten, das sei ihm egal. Dann hatte er aufgelegt, und ich dachte nicht, dass wir ihn wiedersehen würden. Doch nach einem halben Jahr stand er plötzlich vor der Tür und wollte seinen Sohn zurückhaben.“ Wütend zog Hal die Augenbrauen zusammen. „Weil er kein Glück im Spiel gehabt hatte und glaubte, sein Sohn wäre sein Glücksbringer!“
„Das ist ja abstoßend!“, rief Kate aufgebracht und angewidert. Nicolas hatte seinen Vater als leichtlebigen Charmeur beschrieben, der einfach seiner Vaterrolle nicht gewachsen gewesen war. Laut Hals Schilderungen war er dagegen eher ein echtes Scheusal gewesen.
„Ich wollte ihm Billy auf keinen Fall überlassen“, sprach Hal weiter. „Aber sein Vater war jünger als ich und ziemlich skrupellos. Er schlug mich zusammen und griff auch Mary an, als diese Billy nicht hergeben wollte. Der Junge war ganz hysterisch und weinte furchtbar. Ich weiß noch, wie der Vater dem Kleinen eine so heftige Ohrfeige gab, dass sein Kopf zur Seite schnellte. Aber als ich ihn verteidigen wollte, hielt Mary mich zurück, denn sie wusste, dass wir machtlos waren. Und je mehr wir uns für Billy einsetzten, umso schlimmer würde es schließlich für ihn kommen.“
Kate war so aufgebracht und entsetzt, dass ihre Kehle wie zugeschnürt war. Wie hatte Nicolas nur die Gewalttätigkeit dieses Mannes ertragen?
„Mary und ich haben den Kleinen nie wiedergesehen, und wir waren untröstlich. Er fehlte uns furchtbar. Außerdem hatten wir Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein
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