Verführung pur
entwickelt.”
Noelle sah sie fragend an. “Und das heißt?”
In diesem Augenblick klingelte es, und Mia blieb eine ausführlichere Antwort erspart. Sie zwinkerte ihrer Mutter zu und ging zur Tür.
Im Grunde genommen war es nur fair, dass zur Abwechslung einmal Noelle diejenige war, die besorgt und verdrossen abzog, und nicht Mia.
“Komm rein”, sagte sie und blickte Seth selbstbewusst in die Augen, als sie ihm die große Tür zum umgebauten Bootshaus öffnete.
Seth war zum Jubeln zumute, denn er hatte im Stillen damit gerechnet, dass Mia es sich wieder anders überlegen und ihm absagen würde. Aus lauter Angst vor einer Abfuhr hatte er sogar sein Handy ausgeschaltet. Dabei hatte sie nicht einmal die Nummer.
Als er gerade ins Haus treten wollte, kam Mias Mutter herausgestürmt und eilte die Stufen hinunter. Sie warf ihm ein Lächeln zu, das reichlich frostig wirkte.
“Grandpa lässt dir ausrichten, dass wir morgen früh um Punkt fünf mit der Inventur anfangen”, rief sie Mia zu. “Komm ja nicht zu spät!”
Seth staunte über den barschen Ton, der irgendwie nicht zu seinem ersten Eindruck von Noelle passte, und blickte ihr nach.
“Tja, die Arbeit im Geschäft bekommt ihr nicht allzu gut”, erklärte Mia, die immer noch in der Tür stand. “Sie wird dann leicht gereizt, aber das gibt sich wieder.”
Seth hatte trotzdem den Verdacht, dass Noelles gereizte Stimmung etwas mit seinem Erscheinen zu tun hatte. Wie dem auch sei, er war froh, dass Mia alles andere als gereizt schien.
“Du siehst fantastisch aus”, sagte er ihr lächelnd.
Sie trug ein schwarzes Herrenoberhemd, das mit unzähligen Farbspritzern übersät war, und einen kurzen Jeansrock mit aufgestickten Herzen. Ihr dunkles Haar fiel offen die Schultern hinab. In einer Hand hielt sie eine Farbpalette, und auf ihrer Wange leuchtete ein roter Farbklecks.
Eine so günstige Gelegenheit konnte Seth unmöglich ungenutzt verstreichen lassen, also streckte er die Hand aus wischte den Klecks mit dem Daumen fort.
Mia errötete, als er sie berührte, und sie rieb sich nervös mit der Hand über ihre Wange.
“Bei der Arbeit passiert mir das öfter”, erklärte sie verlegen und ging ein Stück zurück, um ihn ins Haus zu lassen.
“Zeigst du mir, woran du gerade arbeitest?”, fragte er und blickte sich um. Das kleine alte Bootshaus musste früher einmal der Vorgänger der modernen riesigen Halle gewesen sein, die ganz in der Nähe stand und für mindestens fünfundzwanzig Boote ausgelegt war. Auf einer Hälfte des hohen Baus war ein Zwischenboden eingezogen worden, aber die andere hatte man gelassen, wie sie war, sodass die Decke hier sehr hoch war.
“Nur wenn du mir versprichst, deine Kritik für dich zu behalten”, antwortete sie lächelnd, doch Seth sah ihr an, wie ernst sie es meinte. “Bevor ich eine Arbeit nicht beendet habe, kann ich hilfreiche Anmerkungen schlecht verkraften. Sie bringen mich durcheinander, und dann kann ich nicht weitermalen.”
“Ich bin bestimmt kein Kunstkritiker. Die einzigen Bilder, die ich regelmäßig ansehe, sind die Comics in der Tageszeitung. Die kenne ich allerdings sehr gut.”
Er folgte ihr in den offenen Wohnbereich, wo ein orangefarbenes Sofa ohne Armlehnen und mit einer schrägen Rückenlehne stand. Seine begrenzten Kunstkenntnisse sagten ihm, dass es sich bei den wenigen Möbeln um Art-déco-Stücke handeln musste, und das wusste er auch nur deshalb, weil in Miami Beach viele Firmen ihre Büros in diesem Stil einrichteten.
“Comics?”, fragte sie erstaunt und trug eine Staffelei, die direkt am Fenster gestanden hatte, zu einer Schutzunterlage, die ein Stück weiter auf dem Boden ausgebreitet war. “Versteh mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Comics, aber ich hätte nicht gedacht, dass Leute wie du sich mit so schlichten Dingen abgeben.”
“Glaub mir, wenn man tagtäglich das
Wall Street Journal
von vorne bis hinten liest, kann es ziemlich erfrischend sein, die Lokalzeitung aufzuschlagen und nachzusehen, wie es den Comichelden geht.”
Er wartete, bis sie die Staffelei umdrehte und ihn das Bild betrachten ließ. Wenn ihm erstmals das Privileg zuteil werden sollte, eines ihrer Bilder zu sehen, wollte er den Moment nicht voreilig verderben.
Mia sah ihn nachdenklich an. “Hmm, ich kann mir zwar den Piraten vorstellen, der sich für Comicfiguren begeistert, aber einen erfolgreichen Banker, der die
Peanuts
liest, eigentlich nicht.”
“Na ja, die
Peanuts
gehören auch nicht direkt zu
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