Verführung pur

diesem Moment bedeutete. Sie brauchte ihn, und diese Erkenntnis flößte ihr regelrechte Furcht ein.
    Die Zukunft ihrer Großeltern lag in ihren Händen, das reichte schon an Belastung. Da konnte sie gut darauf verzichten, sich immer weiter in Seths Bann ziehen zu lassen. Noch dazu war seit dem Streit mit ihrer Mutter der Druck umso größer geworden, dass sie sich endlich als Künstlerin und begabte Geschäftsfrau bewies.
    In dieser Situation konnte sie es sich nicht leisten, ihre Gefühle für einen Mann zu hinterfragen, der ihr binnen kürzester Zeit viel zu wichtig geworden war.
    Noelle saß in dem Hotelzimmer, das seit drei Jahren ihr Zuhause war, und knallte den Telefonhörer auf. Zwei Stunden waren vergangen, seit sie sich mit Mia am Strand überworfen hatte, und sie kochte immer noch vor Wut. Nein, sie war nicht nur wütend, sondern vor allem unglaublich verletzt.
    Aber allmählich tat sich Licht am Ende des Tunnels auf. Da Mia das Geld ihrer Mutter so vehement abgelehnt hatte, würde Noelle damit eben doch ihren Traum verwirklichen. Gerade hatte sie der Maklerin eine mündliche Zusage gemacht, das Haus mit dem ehemaligen Antiquitätenladen zu kaufen, und einen Termin für die Vertragsunterzeichnung vereinbart. Damit ließ sie sich nach zwanzig Jahren erstmals wieder fest in Twin Palms nieder.
    Diesmal jedoch zu ihren Bedingungen.
    Noelle sprang auf und ging zu ihrem Kleiderschrank. Auf dem Weg dahin begann sie sich bereits auszuziehen und ließ ihre Sachen achtlos auf den Boden fallen.
    Heute Abend wollte sie zur Abwechslung einmal ihr Leben genießen und feiern. Ja, sie hatte Mia schrecklich vernachlässigt, als sie klein war. Aber in den letzten Jahren hatte sie nichts unversucht gelassen, sich ihrer Tochter anzunähern. Sie war nach Twin Palms zurückgekehrt, hatte sich die tagtäglichen Vorwürfe ihrer Eltern gefallen lassen und war trotzdem immer bemüht gewesen, sie so gut es ging zu unterstützen. Doch heute war ihr klar geworden, dass all ihre Anstrengungen vergebens waren. Sie würde nie als eine echte Quentin akzeptiert werden.
    Dabei nahm sich ihr Verhältnis zu ihrer Mutter mittlerweile geradezu harmonisch aus, verglichen mit dem zu Mia, das endgültig zerrüttet schien.
    Noelle holte ein Kleid nach dem anderen aus dem Schrank. Sie suchte etwas Wildes, Verwegenes, wie sie es in ihrem früheren Leben gern getragen hatte. Heute Abend wollte sie atemberaubend, umwerfend und unwiderstehlich aussehen. Wenn sie schon nichts gegen ihren Ruf als Rebellin unternehmen konnte, wollte sie wenigstens äußerlich diesem Ruf gerecht werden.
    Da fiel ihr ein silbernes Seidenkleid in die Hände. Es war sehr kurz und eng, mit einem Halsausschnitt, der jede Menge Dekolleté zeigte. Mit den langen schwarzen Lederstiefeln und ihrer Motorradjacke dazu würde sie genauso gefährlich aussehen, wie sie sich fühlte.
    Schade, dass sie in diesem Aufzug auf einem Mofa statt auf einer Harley sitzen würde, aber eine Frau musste das Beste aus dem machen, was sie hatte.
    Als sie in das schmale Kleid schlüpfte, dankte sie im Stillen dem Erfinder des Heimtrainers und ihrer Selbstdisziplin, die zwar nicht sonderlich stark ausgeprägt war, ihr aber immerhin zu einer passablen Figur verhalf. Solange sie in diesem Kleid nicht tanzen musste, war alles bestens.
    Nach einem solchen Tag hatte sie sich einen aufregenden Abend wahrlich verdient. Und was konnte da angemessener sein, als ihn in Brock Chandlers Bett zu beschließen?
    Brock fragte sich, ob er heute überhaupt noch ins Bett kommen würde. Seit dem Abendessen war eine Stunde vergangen, in der seine Neffen ihm unaufhörlich ihre Frauenprobleme geklagt hatten. Wussten sie denn nicht, dass er genug eigene Sorgen hatte? Ganz abgesehen davon nahmen sich die Schwierigkeiten, die Seth mit Mia und Jesse mit seiner Freundin Kyra hatten, denkbar harmlos aus, wenn er daran dachte, gegen welche Hindernisse er bei Noelle zu kämpfen hatte.
    “Du sagst, sie sind mit ihren Ratenzahlungen in Verzug, und deshalb arbeitet Mia vierundzwanzig Stunden täglich in dem Geschäft?”, fragte Seth entsetzt und starrte seinen Onkel fassungslos an.
    “Norman hat erzählt, dass die Bank den Laden schon vor Monaten schließen wollte, aber Mia hat sie immer wieder überreden können, noch zu warten”, erklärte Brock jetzt schon zum dritten Mal. Dabei war er nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, diese Informationen ausgerechnet an Seth weiterzugeben, dem “Wunderkind” unter den