Verführung pur
weißes Kleid mit dem raffinierten Ösenverschluss glatt, das sie eigens für die Eröffnung gekauft hatte. Die letzten drei Tage hatten sie rund um die Uhr gearbeitet, damit heute alles perfekt sein würde.
Auf den Regalen fanden sich edle Seifen neben natürlichen Badeessenzen, Meersalze und Naturschwämme in allen erdenklichen Variationen. Wo früher die T-Shirts mit albernen Aufdrucken wie “Meine Oma reist nach Florida, und ich krieg nur dieses dämliche T-Shirt” lagen, stapelten sich jetzt dicke Frotteehandtücher und Badelaken. Die wenigen Bilder, die Mia aus der Ausstellung übrig behalten hatte, hingen an den Wänden, und – was das Beste war – weit und breit war kein einziger rosa Flamingo aus Plastik zu sehen.
In der hinteren Ecke stand eine große Pinienholztruhe mit ein paar der typischen Gasparilla-Artikel, an denen ihre Großeltern so hingen. Doch das war auch schon der einzige Kompromiss, zu dem Mia bereit gewesen war.
Leider weckte allein die Erwähnung des Gasparilla-Festivals schmerzliche Erinnerungen an einen gewissen Piraten. Traurig blickte sie auf die Truhe.
“Denk nicht an ihn”, sagte Noelle, die hinter dem Kassentresen stand. Sie starrte auf den Computerbildschirm wie eine Siebtklässlerin, die erstmals im Biologieunterricht ein ekliges Tier sezieren musste. Dann blickte sie auf und lächelte Mia an. “Du solltest heute deinen Erfolg feiern, statt trübsinnigen Gedanken nachzuhängen.”
“Das meine ich aber auch”, sagte Mias Großmutter, die in diesem Moment aus dem Lagerraum kam – beladen mit aufblasbaren Alligatoren und Haien. “Haben wir nicht irgendwo noch Platz für die hier? Sie waren immer ein Verkaufsschlager.”
Mia nahm ihr seufzend die Spielzeuge ab und verstaute sie hinter dem Kassentisch. “Wie wär's, wenn wir sie hierlassen und du sie an Familien mit Kindern verschenkst?”
Bevor Betty protestieren konnte, wandte Mia sich an Noelle. “Und wie kommst du überhaupt darauf, dass ich trübsinnig werde, wenn ich an Seth denke? Immerhin habe ich mit ihm Schluss gemacht, und ich hatte gute Gründe dafür. Er hat sich in Dinge eingemischt, die ihn nichts angingen, und er war entschieden zu …”
“Zu hilfsbereit?”, bot Betty an, als Mia noch nach dem richtigen Wort suchte.
“Zu umwerfend?”, schlug Noelle vor, die zu allem Überfluss auch noch lächelte.
“Zu erdrückend”, verbesserte Mia die beiden und erntete damit ein verächtliches Grunzen von ihrem Großvater, der hinter dem Kassentresen auf einem Klappstuhl hockte und Solitär spielte.
“Das ist mir zu hoch, Mia”, sagte ihre Großmutter und stapelte ein paar der Alligatoren und Haie fein säuberlich neben der Kasse auf. “Du fühlst dich erdrückt, weil ein durch und durch sympathischer Mann sich verrenkt, um dir einen Gefallen zu tun?”
“Nein, ich …”
“Oder hast du vielleicht Angst davor, mit einem durch und durch sympathischen Mann eine Beziehung einzugehen, in die du möglicherweise mehr Gefühle investierst als er?”, unterbrach Noelle sie und blickte sie prüfend an.
Nun fühlte Mia sich, als wäre sie das zu sezierende Objekt der Siebtklässlerin. Zumal sie den unheimlichen Verdacht hatte, dass ihre Mutter teilweise richtigliegen könnte.
“Wohl kaum, Mom. Ich bin weit weniger beziehungsgestört, als dein schlechtes Gewissen es dir einzureden versucht.” Sie hatte
keine
Verlustängste, auch wenn ihre Mutter davon auszugehen schien.
Seit ihrer Aussprache im Laderaum des Transporters hatte sich ihr Verhältnis um Klassen gebessert. Sie hatte vieles erkannt, was sie vorher nicht verstanden hatte, und sie betrachtete die Vergangenheit entspannter. Ja, sie hatte sogar den Eindruck, dass sie auch etwas entspannter in die Zukunft sah.
Mit Seth wäre diese Zukunft allerdings deutlich spannender.
Sie warf einen letzten Kontrollblick durch den Laden, um sicherzustellen, dass alles an seinem Platz war, bevor sie das Türschild auf “Geöffnet” drehte. “Ich kann nun einmal nicht mit einem Menschen zusammen sein, der mich vor allem und jedem beschützen will. In dieser Hinsicht seid ihr drei schon fast mehr, als ich verkraften kann.”
Norman hielt mitten im Solitärspiel inne und blickte Mia entgeistert an. “Aber keiner von uns kennt sich mit Hypothekenrechten oder sonstigem Bankenkram aus, Mia. Wir alle hatten keine Ahnung, wie man den Laden vor der Zwangsschließung bewahrt. Und es hätte sicher nicht lange gedauert, bis irgendein Spekulant Wind davon bekommt, dass
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