Verfuehrung
den vielleicht ein Mann wie Lord Byron, mit seinem Hang zum sinnlichen Melodram, aufregend gefunden hätte, aber Julian hatte sich dort sicher unwohl und fehl am Platz gefühlt.
Ein Drache schien im Schein der Kerze zu knurren, als Sophy an einem hohen Lackschrank vorbeiging. Gräßliche, böse aussehende Blumen zierten die Platte eines Tisches daneben.
Sophy schüttelte sich vor Ekel und versuchte sich vorzustellen, wie das Zimmer aussehen würde, wenn sie es neu gestaltete. Als erstes würde sie die Möbel und die Vorhänge austauschen. Es waren mehrere Stücke eingelagert, die hier sehr schön zur Geltung kommen würden.
Ja, Julian hatte diesen Raum sicherlich verabscheut, dachte Sophy. Das war definitiv nicht sein Stil. Sie hatte gelernt, daß er klare, elegante, klassische Linien bevorzugte. Aber, das war ja auch nicht sein Zimmer gewesen, wie sie zugeben mußte. Das war Elizabeths Tempel der Leidenschaft gewesen, der Ort, an dem sie ihre seidenen Netze gesponnen und Männer hinein gelockt hatte.
Getrieben von morbider Neugier, wanderte Sophy durch die Gemächer, öffnete Schubladen und Schranktüren. Alle persönlichen Habseligkeiten waren verschwunden. Offensichtlich hatte Julian angeordnet, alle persönlichen Dinge Elizabeths aus dem Zimmer zu entfernen, ehe er es ein letztes Mal abgeschlossen hatte.
Doch dann öffnete Sophy die letzte einer Reihe von Schubladen in einer Lackschatulle und fand ein kleines, gebundenes Büchlein. Sie sah es eine Weile lang mit ungutem Gefühl an, bevor sie es aufschlug und sah, daß es Elizabeths Tagebuch war.
Sophy konnte sich nicht zurückhalten. Sie stellte die Kerze auf den Tisch, nahm das kleine Buch und begann zu lesen.
Zwei Stunden später wußte sie, warum Elizabeth in der Nacht ihres Todes in der Nähe des Weihers gewesen war.
»Sie war in jener Nacht bei dir, nicht wahr, Bess?« Sophy saß auf der kleinen Bank vor der reetgedeckten Hütte der alten Frau und hatte den Kopf über die frischen und getrockneten Kräuter gebeugt, die sie sortierte.
Bess seufzte, ihre Augen waren nur noch Schlitze in ihrem verhutzelten Gesicht. »Du weißt es also, was? Ja, Mädel. Sie war bei mir, die arme Frau. Sie war nicht bei Trost in dieser Nacht. Wie hast du entdeckt, daß sie hier war?«
»Ich habe gestern nacht ihr Tagebuch in ihrem Zimmer gefunden.«
»Bah. Die kleine Närrin.« Bess schüttelte angewidert den Kopf. »Diese Geschichte, daß die feinen Damen immer alles in ihre Tagebücher kritzeln müssen, ist fast gefährlich. Ich hoffe, du gehörst nicht dazu.«
»Nein.« Sophy lächelte. »Ich führe kein Tagebuch. Manchmal mache ich mir Notizen über meine Lektüre, mehr nicht. Ich hab schon Schwierigkeiten, mit meiner Korrespondenz auf dem laufenden zu bleiben.«
»Seit Jahren sag ich schon, daß es nichts Gutes bringt, wenn man so vielen Leuten das Lesen und Schreiben beibringt«, sagte Bess. »Das wirklich wichtige Wissen kommt nicht aus Büchern. Dafür muß man Augen und Ohren aufhalten und darauf achten, was hier drin ist.« Sie klopfte auf ihre ausladende Brust in der Gegend ihres Herzens.
»Das mag ja wahr sein, aber leider haben nicht alle von uns deinen Instinkt für diese Art Wissen, Bess. Und vielen von uns fehlt es an Gedächtnis. Für uns ist lesen und schreiben Können die einzige Lösung.«
»Für die erste Gräfin war’s keine gute Lösung? Sie hat ihre Geheimnisse in ein Buch geschrieben, und jetzt kennst du sie.«
»Vielleicht hat Elizabeth ihre Geheimnisse nur aufgeschrieben, weil sie hoffte, daß sie eines Tages jemanden findet und liest«, sagte Sophy nachdenklich. »Vielleicht war sie irgendwie stolz auf ihre Lasterhaftigkeit.«
Bess schüttelte den Kopf. »Ich glaub eher, daß sie gar nicht anders gekonnt hat. Vielleicht war das Schreiben ihre Methode, um von Zeit zu Zeit ein bißchen Gift aus dem Blut zu kriegen.«
»Der Himmel weiß, daß sie irgendein Gift in den Adern gehabt haben muß.« Sophy mußte an die Eintragungen denken, manche triumphierend, manche obszön, bösartig und einige tragisch, die Aufzeichnungen ihrer Affären. »Wir werden es nie genau erfahren.« Sophy schwieg einen Moment, während sie Kräuter in eine Reihe kleiner Beutel verpackte. Das spätnachmittägliche Sonnenlicht tat wohl, und die Gerüche des Waldes um Bess’ Hütte waren süß und beruhigend nach der Luft in London.
»Jetzt weißt du es also«, unterbrach Bess die Stille.
»Daß sie zu dir gekommen ist, weil sie das Baby, das sie erwartete,
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