Verfuehrung
sagte Anne nachdenklich.
»Sie ist eigentlich keine große Schönheit«, verkündete Fanny.
Die anderen Frauen sahen sie überrascht an.
Fanny lächelte. »Es stimmt. Ich hab sie schon einige Male gesehen, wißt ihr. Aus der Ferne natürlich. Erst neulich haben Harry und ich sie beim Einkaufen in der Bond Street gesehen, nicht wahr, Harry?«
»Meiner Treu, ja. Wirklich beeindruckend.«
»Sie saß in einem kaum vorstellbaren gelben Zweispänner«, erklärte Fanny ihrem aufmerksamen Publikum. »Sie trug ein dunkelblaues Kleid, und an jedem Finger blitzten Diamanten. Wirklich ein atemberaubender Anblick. Sie ist blond und sieht ganz passabel aus, und sie weiß natürlich das Beste daraus zu machen, aber ich kann euch versichern, daß es in der Gesellschaft viele Frauen gibt, die schöner sind als sie.«
»Warum sind dann die Herren der Gesellschaft so angetan von ihr?« fragte Sophy.
»Herren sind Kreaturen mit schlichtem Verstand«, erklärte Harriette gelassen und führte ihre Teetasse zum Mund. »Sielassen sich leicht von Neuheiten blenden und der Aussicht auf romantische Abenteuer. Ich denke mir, die Große Featherstone wird wissen, wie sie den Männern einreden kann, daß sie bei ihr beides erwarten können.«
»Es wäre wirklich interessant, ihre geheimen Methoden zu kennen, mit denen man Männer in die Knie zwingt«, sagte eine ältliche Matrone in taubengrauer Seide.
Fanny schüttelte den Kopf. »Vergiß nicht, daß sie trotz allem Glanz und Glitzer in ihrer Welt genauso festgekettet ist wie wir in unserer. Sie mag vielleicht ein Fang für die Männer der Gesellschaft sein, aber sie kann sie nicht ewig halten, und das muß sie auch wissen. Außerdem kann sie nicht darauf hoffen, einen ihrer hochrangigen Verehrer zu heiraten und dadurch in eine sicherere Welt aufzusteigen.«
»Das ist wohl war«, sagte Harriette und spitzte den Mund. »Egal wie verfallen er ihr auch sein mag, egal wieviele teure Ketten er ihr vielleicht schenkt, kein Edelmann, der bei Verstand ist, wird einer Frau der Halbwelt einen Heiratsantrag machen. Selbst wenn er sich so weit vergißt, daß er es tut, wird seine Familie die Geschichte schnell im Keim ersticken.«
»Ihr habt recht, Fanny«, sagte Sophy nachdenklich. »Miss Featherstone ist in ihrer Welt gefangen und wir in unserer. Trotzdem, wenn sie es geschafft hat, aus der Gosse dahin aufzusteigen, wo sie heute offensichtlich ist, muß sie eine sehr gescheite Frau sein. Ich glaube, sie könnte einen sehr interessanten Beitrag zu Euren nachmittäglichen Salons leisten, Fanny.«
Ein schockiertes Raunen ging durch die kleine Gruppe. Aber Fanny lachte. »Sehr interessant, ohne Zweifel.«
»Wißt Ihr was?« fuhr Sophy impulsiv fort. »Ich glaube, ich würde sie gerne kennenIernen.«
Alle Augen im Raum richteten sich fassungslos auf sie.
»Sie kennenIernen?« rief Jane entsetzt aber zugleich fasziniert. »Du möchtest so einer Frau vorgestellt werden?«
Anne Silverthorne lächelte zögernd. »Es wäre sicher recht amüsant, nicht wahr?«
»Still, ihr alle drei«, unterbrach sie eine der älteren Frauen erbost. »Habt ihr denn jeden Sinn für Anstand verloren? Eine wirklich lächerliche Vorstellung.«
Fanny warf Sophy einen amüsierten Blick zu. »Wenn Julian auch nur vermuten würde, daß du so ein Ziel vor Augen hast, wärst du innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder auf dem Land.«
»Glaubst du, Julian ist ihr je begegnet?« fragte Sophy.
Fanny verschluckte sich an ihrem Tee und setzte schnell Tasse und Teller ab. »Verzeihung«, sagte sie, als Harriette ihr einen vertraulichen Klaps zwischen die Schulterblätter gab. »Verzeiht, bitte.«
»Ist alles in Ordnung?« fragte Harriette mäßig besorgt, als Fanny sich wieder gefangen hatte.
»Ja, ja, alles in Ordnung, danke Harry.« Fanny lächelte die ängstliche Runde fröhlich an. »Mir geht es wieder wunderbar. Ich bitte euch alle um Verzeihung. Als denn, wo waren wir. Oh, ja, du wolltest mit dem Vorlesen anfangen, Anne. Bitte.«
Anne stürzte sich mit Feuereifer auf die erstaunlich lebendige Prosa, und jede Frau im Raum lauschte hingerissen. Charlotte Featherstones Memoiren waren gut geschrieben, unterhaltsam und köstlich skandalös.
»Lord Ashford hat der Featherstone ein Kollier im Wert von fünftausend Pfund geschenkt?« rief ein Mitglied der Gruppe entsetzt an einer Stelle dazwischen. »Wartet, bis seine Frau das hört. Ich weiß aus sicherer Quelle, daß Lady Ashford seit Jahren furchtbar sparen muß. Ashford
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