Verfuehrung
Auftreten anging, obgleich sie etwa genauso alt war. Sie war klein, rundlich und strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus. Ihre Geruhsamkeit war die perfekte Ergänzung zu Fannys Begeisterungsstürmen. Sie trug am liebsten imposante Turbane, ein Monokel am schwarzen Band und die Farbe Lila, die, wie sie fand, die Farbe ihrer Augen betonte. Bis heute hatte Sophy Harriette Rattenbury noch in keiner anderen Farbe gesehen. Aber gerade dieser Hang zum Exzentrischen paßte irgendwie sehr gut zu ihr.
Sophy hatte beide Frauen auf Anhieb gemocht, was wirklich ein Segen war, denn Julian hatte sie einfach ihrer Gesellschaft überlassen. Sophy hatte ihren Mann in der letzten Woche kaum gesehen, und in ihrem Schlafzimmer war er kein einziges Mal aufgetaucht. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte, aber sie war dank Fanny und Harry viel zu beschäftigt gewesen, um über diese Angelegenheit zu grübeln.
»Als denn«, sagte Fanny, als Anne begann, die Seiten des kleinen Buches aufzuschneiden, »bitte halt uns nicht länger hin als absolut nötig, Anne. Fang sofort an zu lesen.«
Sophy sah ihre Gastgeberinnen an. »Hat diese Memoiren wirklich eine Frau der Halbwelt geschrieben?«
»Nicht einfach irgendeine Frau, sondern die Frau aus diesen Kreisen«, versicherte ihr Fanny befriedigt. »Es ist kein Geheimnis, daß Charlotte Featherstone seit zehn Jahren die Königin der Londoner Kurtisanen ist. Männer von höchstem Rang haben sich um die Ehre duelliert, ihr Beschützer zu sein. Jetzt zieht sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere ins Privatleben zurück und hat sich entschlossen, der Gesellschaft mit ihren Memoiren eins auszuwischen.«
»Der erste Band ist vor einer Woche erschienen, und wir haben alle schon mit Spannung auf den zweiten gewartet«, kicherte eine der anderen Damen schadenfroh. »Anne wurde geschickt, ihn für uns zu holen.«
»Ist doch wirklich eine nette Abwechslung von den Sachen, die wir sonst mittwochs studieren und diskutieren, nicht wahr«, bemerkte Harriette. »Es ist manchmal etwas ermüdend, sich durch diese ziemlich seltsamen Gedichte Blakes zu kämpfen, und ich muß sagen, daß es oft wirklich schwierig ist, zwischen Coleridges literarischen Visionen und seinen Opiumvisionen zu unterscheiden.«
»Kommen wir doch gleich zum Wichtigsten«, sagte Fanny. »Welche Namen nennt die Große Featherstone denn diesmal?«
Anne überflog bereits die Seiten, die sie geöffnet hatte. »Ich sehe Lord Morgans und Lord Crandons Namen und, o gütiger Himmel, da ist auch ein königlicher Herzog.«
»Ein königlicher Herzog? Diese Miss Featherstone hat anscheinend einen sehr exquisiten Geschmack«, bemerkte Sophy fasziniert.
»Das hat sie wohl«, bemerkte Jane Morland, die dunkelhaarige junge Frau mit den ernsten Augen, die neben Sophy saß. »Man stelle sich vor, obwohl sie eine der modischen Parias ist, hat sie Leute kennengelernt, die zu treffen ich mir nicht einmal im Traum erhoffen kann. Sie hat Umgang mit Männern aus den obersten Schichten der Gesellschaft.«
»Sie hatte wohl wesentlich mehr als nur Umgang mit ihnen, wenn ihr mich fragt«, murmelte Harriette und rückte ihr Monokel zurecht.
»Aber woher kommt sie? Wer ist sie?« fragte Sophy.
»Ich habe gehört, sie wäre die illegitime Tochter einer gewöhnlichen Straßendirne«, sagte eine der älteren Frauen amüsiert, aber auch leicht angewidert.
»Eine gewöhnliche Straßendirne hätte es nie geschafft, ganz London auf sich aufmerksam zu machen, wie die Featherstone«, sagte Jane überzeugt. »Zu ihren Bewunderern gehört eine stattliche Anzahl Adliger. Sie ist offensichtlich etwas Besonderes.«
Sophy nickte langsam. »Stellt euch nur vor, was sie für Hindernisse in ihrem Leben überwinden mußte, um ihre augenblickliche Position zu erreichen.«
»Ich könnte mir vorstellen, daß ihre augenblickliche Position flach auf dem Rücken ist«, sagte Fanny.
»Aber sie muß doch sehr viel Geist und Witz haben, wenn sie so viele einflußreiche Liebhaber faszinieren konnte«, sagte Sophy.
»Das hat sie sicher«, stimmte ihr Jane Morland zu. »Es ist wirk-lich ganz interessant zu sehen, wie bestimmte Leute, die nichts außer Flair und Intelligenz besitzen, andere von ihrer gesellschaftlichen Überlegenheit überzeugen können. Nehmt doch mal Brummell oder Byrons Freund Scrope Davies zum Beispiel.«
»Ich könnte mir denken, daß Miss Featherstone sehr schön sein muß, wenn sie so erfolgreich in ihrem, äh, erwählten Beruf ist«,
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