Vergangene Narben
ins Ohr, und ja, dieses Mal war ich mir sicher einen Hörsturz erlitten zu haben. Woher sonst würde das Piepen in meinem Gehörgang kommen?
„Ach komm schon, Alina, der Ball ist doch erst morgen Abend, und bis hier her braucht ihr vielleicht vier Stunden.“
„Aber ich brauche ja schon mindestens vier Stunden, um mir ein gutes Kleid auszusuchen. Und dann auch noch Schuhe, und Make-up, und …“
„Dann fahrt einfach um acht los, dann schaffst du es noch rechtzeitig zum Ende des Balls hier aufzutauchen.“ Ich lief an dem offenen Portal vorbei, und dem jede Menge Leute ein und ausgingen. Eine Gruppe von jungen Frauen entdeckte Flair, und versuchte sie zu sich heranzulocken, weil sie – nach ihren Worten – ja so absolut niedlich war.
Flair jedoch intonierte die kleine Schar, die nichts zu fressen versprach, und schnupperte lieber an der Abdeckung der Beete.
„Du hast wohl heute zum Frühstück einen Clown verspeist“, murrte meine Lieblingscousine.
„Ne, ´nen Buch mit schlechten Witzen. Und zum Nachtisch hat es dann Kichererbsen gegeben.“
Sie schnaubte. „Warte nur bis ich morgen da bin, dann bekommst du das alles zurück.“
Leere Drohungen. „Ich freu mich schon drauf.“
„Und wenn … Moment.“ Sie hielt den Hörer vom Ohr weg. „Was?!“
Uh, da wollte wohl ein Elternpart etwas von ihr.
„Wirklich?!“, quickte sie plötzlich aufgeregt, und dann war sie wieder am Hörer. „Du, ich muss Schluss machen. Papa will jetzt mit mir das Kleid holen gehen!“
Na ob Onkel Tristan wusste, auf was er sich da eingelassen hatte?
„Ah, geil. Wir sehen uns morgen!“ Und damit legte sie einfach auf.
Hm, ich sollte mir unbedingt einen neuen Bekanntenkreis zulegen, überlegte ich, als ich mich langsam dem Stall nährte. Kian hielt es auch nie für nötig, ich richtig bei mir zu verabschieden. Oder lag das etwa an mir? Über diese Frage sinnierte ich immer noch, als ich mit Flair im Schlepptau den Stall betrat, und von Gisel gleich den Auftrag bekam, die beiden Lipizzaner der Zwillinge fertig zu machen, da die Zwillinge in einer halben Stunde Training hatten. Danach hatte ich die hinteren Boxen komplett auszumisten, und neues Stroh vom Heuboden zu holen. Und da heute so schönes Wetter war, beschloss ich ein paar Schritte weiter zu gehen, und band die Lipizzaner draußen vor dem Stall an einen Pfahl.
So waren die Tiere draußen, und ich entging Gisels ständig kontrollierendem Blick. Außerdem mochte ich es an der frischen Luft zu arbeiten, die Tiere zu bürsten, zu striegeln, und sie zu loben. Zwischendurch gab es dann auch mal ein kleines Leckerli.
Ich war von meiner Arbeit so abgelenkt, dass ich auf den Neuankömmling erst aufmerksam wurde, als Flair kläffend aufsprang, und ihm freudig entgegen lief.
Der rechte Lipizzaner scharte unruhig mit dem Huf in der Erde, als ich ihm über dem Rücken sah, und fast zeitgleich knallrot anlief.
Mist, das war Cio. Was sollte ich den jetzt tun? Ich konnte ja schlecht einfach wegrennen, aber nach gestern Nacht wollte ich ihm auch nicht begegnen. Okay, aber ich konnte ihn ignorieren, oder wegschicken.
Weil das ja in der Vergangenheit auch so gut geklappt hatte.
Mist, da war etwas Wahres dran. In der Hinsicht war Cio wie so ´nen kleiner Pittbull. Wenn der sich einmal festgebissen hatte, dann ließ der nicht mehr so schnell locker. Andererseits, er wusste doch schon alles, was er glaubte, dass es zu wissen gab, oder?
In meinem Kopf ratterten immer noch die Rädchen, als er mit einem Lächeln auf mich zukam, und dabei versuchte nicht auf Flair zu treten, die wild um seine Beine herumhampelte. „Hey, Eva, was machst du gerade?“
Bei dieser Anspielung glühten meine Wangen nicht nur rot, er bekam auch einen echt bösen Blick, der mich eigentlich zum Killer hätte machen müssen. Evakostüm, verstanden. Voll witzig, ha ha. „Ich bereite die Pferde vor, das sieht man doch wohl“, kam es mir etwas schärfer über die Lippen, als ich beabsichtigt hatte. Hastig senkte ich den Blick auf den Strigel, mit dem ich gerade gleichmäßig über das weiße Fell strich.
Cio stutzte. „Bist du sauer auf mich?“
„Nein.“ Seufz. „Ich habe jetzt gerade nur einfach keine Zeit für dich, also ist es vermutlich das Beste, wenn du einfach wieder gehst.“ Bevor es für ich noch peinlicher werden konnte.
„Keine Zeit?“Er wirkte fast schockiert. „Aber was ist mit Mittagessen?“
Darauf ging ich gar nicht erst ein. Ich bückte mich, und bearbeitete das Pferd weiter unten, so dass er
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