Vergangene Schatten
musste. Und das Allerschlimmste war, dass sie kaum etwas dagegen tun konnte.
»Könntest du mal das Fenster runterlassen?«, fragte sie ein paar Minuten später mit schwacher Stimme. Ihr war mittlerweile so heiß, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment dahinzuschmelzen.
Matt hatte sein Handy hervorgeholt und wählte eine Nummer, während er den Wagen durch das Zentrum des dunklen schlafenden Städtchens lenkte. Offensichtlich war er ziemlich unbeeindruckt von ihrer Nähe.
»Sie sind unten«, sagte er geistesabwesend. Sandra nickte bestätigend.
Carly blickte ungläubig an den beiden vorbei und sah, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Die Fenster waren tatsächlich offen. Ungehindert von einer mit Fliegendreck verschmierten Fensterscheibe konnte sie all die Verschönerungen bewundern, die in einer von der Handelskammer Benton herausgegebenen Broschüre voller Stolz aufgezählt wurden: die neuen Schaufenster, die ordentlichen Bürgersteige, die Blumenkübel mit ihrer bunten Blütenpracht und die hübschen Straßenschilder an jeder Ecke. Doch hier auf dem mittleren Sitz im Wagen bekam sie leider nicht den kleinsten Hauch von frischer Luft ab.
Matt schien sich nicht unwohl zu fühlen. Der Wind zerzauste sein schwarzes Haar und trocknete den Schweiß an Gesicht und Oberkörper. Und auch Sandra wirkte recht entspannt. Ihr schwarzes Haar war zu kurz geschnitten, um im Wind zu wehen, doch ihre Schmetterlings-Ohrringe baumelten munter hin und her. Carly hingegen fühlte sich alles andere als wohl. Nicht nur, dass sie von Fantasien geplagt wurde, in denen sie es mit Matt auf eine Weise trieb, wie sie es sich nie auch nur im Entferntesten hatte träumen lassen - nein, sie hatte das Gefühl, gleichzeitig zu ersticken, in einem Backofen zu schmoren und hin und her geschaukelt zu werden wie ein Baby auf den Knien eines Onkels, der keine Ahnung hatte, wie man mit einem kleinen Kind umging. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Angst hatte sie keine mehr, aber sie war immer noch aufgewühlt von allem, was geschehen war. Sie war aber auch deprimiert über diese neue Wendung in ihrem Leben. Längst fragte sie sich, ob es so klug gewesen war, nach Benton zurückzukehren, in das Haus ihrer Großmutter einzuziehen und es gar zur Grundlage ihrer beruflichen Zukunft zu machen. Ihre Freundin und Geschäftspartnerin drohte aus ihrer Vereinbarung auszusteigen. Der niederträchtige, gemeine Schuft, den sie seit Jahren verfluchte, war irgendwie wieder mitten in ihrem Leben aufgetaucht. Ihr Haar, das jahrelang die gewünschte kerzengerade Form beibehalten hatte, war urplötzlich in den struppigen Zustand ihrer Kindheit zurückgefallen. Und zu allem Überfluss war sie auch noch krank vor Sorge um ihren Kater.
Zuvor hätte sie noch gesagt, dass es eben nicht ihr Tag war. Mittlerweile sah sie die Dinge um vieles drastischer: Nicht nur der vergangene Tag, nein, ihr ganzes Leben war absolut schief gelaufen.
»Ja, ich brauche jemanden, der mich bei mir zu Hause abholt«, sagte Matt in sein Handy und unterbrach sie damit in ihren düsteren Gedanken. »Und ich möchte, dass ihr euch nach einer vermissten Katze umseht.« Pause. »Was meinst du damit, wie sie aussieht? Sie hat vier Pfoten und einen Schwanz und wiegt ungefähr siebzig Kilo. Stell dir einen Grizzlybären vor, dann weißt du, wie sie aussieht.« Pause. »Herrgott, wie Katzen eben so sind. Weiß und pelzig. Sie macht miau. Was willst du noch, ein Foto?« Pause. »Nein, sie sind hier bei mir. Ich bringe sie zum Übernachten zu mir nach Hause.« Er lachte kurz auf. »Mach dir darüber keine Sorgen. Mir wird schon nichts passieren. Ja, ich bin mir sicher. Okay. Fünfzehn Minuten.«
Er beendete das Gespräch und steckte das Handy wieder ein.
»Antonio hat Angst, dass ihr beiden mich in der Nacht ermorden könntet, wenn ich euch bei mir zu Hause schlafen lasse«, erläuterte Matt mit einem angedeuteten Lächeln.
»Oh, dann muss er dich ja ziemlich gut kennen«, sagte Carly mit einem aufgesetzten Lächeln. Sie wusste nicht recht, ob sie erleichtert sein sollte, weil Matt jemandem aufgetragen hatte, nach Hugo zu suchen, oder doch eher beleidigt angesichts der Beschreibung, die er von ihrem Kater gegeben hatte.
Matt gab keine Antwort. Stattdessen bog er in eine Siedlung ein, die aus recht unterschiedlichen Häusern bestand. Schließlich lenkte er den Wagen in eine asphaltierte Zufahrt. Die Scheinwerfer beleuchteten einen älteren Bungalow mit einer niedrigen Veranda. Hier war Matt
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