Vergangene Schatten
- länger als die anderen beobachtet hatte. »Na ja«, sagte Carly und hob ihren Becher auf, »die Sache ist die, dass ich nun mal Grundsätze habe.«
Wenige Minuten später verabschiedeten sich Sandra und Carly von ihren Bekannten und gingen zu ihrem Van zurück, den Carly gebraucht um dreitausend Dollar gekauft hatte.
»Äh, Carly.«
»Was?«, fragte Carly und erschrak. Sie waren zusammen mit all den anderen Festbesuchern aufgebrochen und befanden sich genau in diesem Augenblick auf der Höhe des Sheriff-Büros. Carly hatte versucht, durch eines der Fenster zu spähen, hatte jedoch nichts erkennen können, weil die Jalousien heruntergelassen waren.
»Ich muss pinkeln.«
Carly sah Sandra an und verlangsamte ihre Schritte. Ihre Augen weiteten sich, als ihr plötzlich dämmerte, dass sich da eine unerwartete Gelegenheit bot, die es am Schopf zu packen galt.
»Nein, ich kann es nicht verhalten, bis wir daheim sind«, sagte Sandra gereizt, als sie Carlys Gesichtsausdruck sah.
»Das hat ja auch keiner von dir verlangt«, erwiderte Carly. »Das wäre wahrscheinlich auch ungesund. Außerdem hast du wirklich Glück. Zufällig weiß ich nämlich, wo du hier eine Toilette findest.«
»Wo?«, fragte Sandra erstaunt und blickte um sich. Kurz entschlossen begann sich Carly einen Weg durch die Menge zu bahnen, um mit Sandra die Straße zu überqueren.
Die hiesige Handelskammer hatte sich bemüht, das niedrige Gebäude einigermaßen zu verschönern. An dem einen großen Fenster sowie den beiden kleinen vergitterten Fenstern des Hauses hatte man Blumenkisten angebracht. Im sanften gelben Licht der altmodischen Straßenlaterne las Carly die schwarze Aufschrift: SCREVEN COUNTY SHERIFF'S DEPARTMENT.
Carly lächelte zufrieden. Als achtzehnjähriges Mädchen voller Liebeskummer hätte sie die Situation wohl noch hingenommen, wie sie war. Doch als die dreißigjährige Frau, die sie heute war, würde sie es anders machen. Sie würde ihre Wut herauslassen und dem niederträchtigen, gemeinen Schuft ordentlich den Marsch blasen.
»Hier drin haben sie eine Toilette«, sagte sie und öffnete lächelnd die Tür zum Sheriff-Büro.
17
»Ich bin wirklich froh, dass du mir geholfen hast, Matt«, sagte Anson Jarboe ernst, als Matt die Zellentür hinter ihm abschloss.
Matt sah ihn an und schüttelte den Kopf. Der schmächtige kleine Mann mit dem zerzausten weißen Haar und den geröteten Augen war wie üblich mit Unterhemd und Overall bekleidet. Auch sein Gesicht war so gerötet wie immer.
»Findest du nicht, es wäre einfacher, wenn du einfach mal mit dem Trinken aufhören würdest?«, fragte Matt, während er zu seinem Schreitisch zurückging. Von dort aus konnte er seinen Gefangenen im Auge behalten und außerdem seine Post durchsehen. Nachdem alle seine Mitarbeiter draußen waren, um beim Fest für Ordnung zu sorgen, waren er und Anson die Einzigen im Büro.
»Ich hab ja aufgehört. Zehnmal. Zwanzigmal. Es hat nie lange angehalten. Außerdem hat Ida dann wenigstens was zu tun, wenn sie mit mir schreien kann.« Er schüttelte den Kopf. »Diese Frau kann vielleicht wütend werden. Manchmal jagt sie mir eine Heidenangst ein.«
»Heute Abend zum Beispiel«, warf Matt trocken ein. Auf seinem Schreibtisch lagen mehrere Briefe, aber nicht der, auf den er gewartet hatte. Marsha Hughes war nicht wieder aufgetaucht, weder lebend noch sonst wie. Er hatte zuletzt ein wenig nachgeforscht, um mehr über die Lebensumstände und die Vergangenheit von Marsha und ihrem Freund zu erfahren. Marsha hatte zwei Exmänner in Georgia und eine Schwester in Tennessee, von denen bisher keiner auf die Nachrichten geantwortet hatte, die er auf den Anrufbeantwortern hinterlassen hatte. Kenan hatte zuvor in Clearwater, Florida, gelebt. In der Vergangenheit hatte er einige Male Besuch von der Polizei bekommen, weil er angeblich gegen seine Lebensgefährtin handgreiflich geworden war. Kenan war zwar nie festgenommen worden, doch Matt war dennoch interessiert, was ihm die Kollegen in Clearwater mitteilen konnten. Jedenfalls hatten sie versprochen, ihm eine Kopie ihrer Akte zu schicken. Bisher war sie jedoch nicht angekommen.
»Heute ist doch Nationalfeiertag! Ich habe gefeiert! Dieses verrückte alte Weib will, dass ich mit ihr zu Hause sitze und fernsehe.« Brummelnd zog Anson seine Schuhe aus und streckte sich auf der Pritsche aus. Es gab insgesamt drei Zellen, die nebeneinander an der Ostwand des Hauses lagen. »Wenn du nicht gewesen wärst, dann weiß ich
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