Vergeben, nicht vergessen
alleine ins Badezimmer gehen, Mama, nur wenn ich mit dir mitgehe. Und Ramsey auch nicht.«
Auf dem Weg zur Eingangstür hörte Virginia Trolley Frau Santera lachen. Es war zwar etwas dünn und zittrig, aber ein Lachen war es.
27
Sowohl Emma als auch Molly fiel die Kinnlade herunter, als sie die Empfangshalle des Dromoland Castle betraten. Die Innenwände bestanden aus denselben abgerundeten grauen Steinen wie außen, in der Halle waren riesige Fenster, alte Wandtapeten und freundlich lächelnde Iren. Dromoland war ehemals eine Hochburg der O’Briens gewesen. Seit Anfang des Jahrhunderts diente das riesige, mit Türmchen verzierte mittelalterliche Gebäude als Hotel. Es war eine gigantische Ansammlung von Stein inmitten eines der schönsten Parks, die sie je gesehen hatten. Sie hatten die Speath Suite bekommen, ein weitläufiger quadratischer Raum, dessen lange Fenster eine Aussicht auf kurz geschorene, hügelige Rasenflächen, angelegte französische Gärten und einen Teich boten. Zwei Doppelbetten standen zur Verfügung. Für Emma hatten sie ein Gästebett erbeten, doch als es von dem lächelnden Dienstboten Tommy gebracht wurde und Ramsey Emma fragte, wohin sie ihr Bett haben wolle, hatte ihr panischer Gesichtsausdruck ihn bewogen, sich zu Tommy umzudrehen und das Bett wieder hinausrollen zu lassen. Emma schlief bei ihrer Mutter. Seit ihrer Ankunft hatte sie keine Alpträume mehr gehabt.
An ihrem dritten Tag in Irland, dem ersten, an dem es nicht in Strömen regnete, war die Sonne so hell, dass es schmerzte, wenn man direkt in ihre Richtung sah. Es war später Vormittag. Emma trug Blue Jeans, ein weißes Hemd, ihre Lieblingsturnschuhe von Nike und ein Paar karierte Socken, die Ramsey ihr in dem schönen, reetgedeckten Dorf Adare gekauft hatte, einem Dorf, wo fast jedes der pittoresken Häuser einen Andenkenladen beherbergte.
Emma fütterte die Enten. Molly kniete zwei Meter weit entfernt auf einem Bein und wartete darauf, dass die spätmorgendliche Sonne genau im richtigen Winkel für eine perfekte Fotoserie stand. Sie hatte einen Film mit sechsunddreißig Aufnahmen und hundert ASA in ihre Minolta eingelegt. Sie hatte ihren Belichtungsmesser nicht mit dabei und wünschte, sie hätte die Kamera mit eingebautem Belichtungsmesser mitgenommen. Aber da sie Emma bereits so häufig und vor so unterschiedlichen Flintergründen und Blickwinkeln und verschiedenen Lichtquellen aufgenommen hatte, konnte sie sich einigermaßen sicher sein - eines dieser Fotos sollte absolut perfekt werden. Sie wollte es Ramsey schenken, dem Mann, der ihrer Tochter das Leben gerettet hatte und den sie allmählich ebenso gut kannte wie sich selbst. Heute war mehr Licht als Dunkel in Emmas Gesicht und in ihrer Umgebung. Weiße Enten, die heller leuchteten als brandneu funkelnder Autolack, hatten sich um Emma versammelt. Emma lachte und warf ihnen Brotstückchen zu, wobei sie jedes einzelne Stückchen erst in der Hand zurückhielt und die glückliche Ente auswählte, die es bekommen sollte. Eine der Enten war schnell und schlau. Sie war hochgeflattert und hatte mehrmals vor ihren Artgenossen mit den Flügeln geschlagen, bevor sie ihr das Brot aus den Fingern gerissen hatte. Molly beeilte sich, die Einstellung um eine Blende zu reduzieren und die Belichtungszeit auf 1/125 zu erhöhen, da sie die Kamera in der Hand hielt und sicherstellen wollte, dass das Bild nicht verwackelte. Da das natürliche Licht hervorragend war, würde der Hintergrund - der See und die Enten - klar und ebenso scharf wie Emmas Gesicht abgebildet werden. Sie hatte die Sonne im Rücken, sodass Emma im Licht stand. Immer wieder schätzte sie die Entfernung bis zu Emmas Gesicht ein, damit die Haut in möglichst natürlichem Ton leuchtete. Der See und die Enten würden ebenfalls scharf abgebildet sein, die Farben kräftig und dramatisch wirken. Das Bild sollte etwas Fließendes haben, nicht eine verschwommene Bewegung ohne Details. Dieses wollte in genau der richtigen Sekunde eingefangen sein. Jede Falte des Hemdes sollte naturgetreu abgebildet werden, ohne
Schattierungen, ohne unnötige Glanzlichter oder Überbelichtungen. Sie wollte das traumhafte Lachen auf Emmas Gesicht genau wie in diesem Augenblick abbilden, sodass es auch in hundert Jahren noch so scharf und warm und wirklich war, dass man das Lachen fast zu hören und dessen Wärme zu fühlen glaubte. Sie drückte ein, zwei, drei Mal auf den Auslöser, dann wippte sie auf die Füße zurück für eine zweite Serie.
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