Vergeben, nicht vergessen
Schließlich setzte sie sich auf einen Hügel, lehnte sich zurück und sah zu Emma auf. Die aggressive Ente hüpfte hoch, um sich ein kleines Stück Brot zu holen, das Emma eigentlich der Ente neben ihr hatte geben wollen. Emma sprang auf und klatschte. Sie war so zufrieden, dass sie der sie bedrängenden Ente etwas Brot zuwarf. Die Ente hüpfte mit ausgestrecktem Hals hoch, um an das Brot zu kommen. Molly knipste noch eine Serie, bei der sie am Ende flach auf ihrem Rücken lag und fast senkrecht nach oben fotografierte. Sie richtete sich auf und legte ihre Minolta SLR auf ihrem Knie ab. Sie hatte keinen Film mehr. Die Kamera lag warm und angenehm in ihrer Hand und auf ihrem Bein. Die Minolta und sie waren alte Freunde. Sie war an ihr Gewicht und an ihre Handhabung gewöhnt. Die neueren Kameras waren zwar wirklich sehr gut und machten viele Dinge, die sie immer noch manuell erledigen musste. Manche von ihnen waren so ausgeklügelt, dass sie vermutlich sogar für den Fotografen Kaffee zubereiten konnten. Doch sie brauchte keinen Kaffee. Ihre Minolta hatte immer noch viel zu bieten.
Mit ihren Aufnahmen war sie sehr zufrieden. Eine davon würde perfekt werden, darauf ging sie jede Wette ein. Vielleicht sogar zwei. Für einen Moment wünschte sie, sie hätte ein Stativ mitgenommen. Als sie sich jedoch erinnerte, wie lästig das Schleppen des ganzen Zeugs war, schüttelte sie den Kopf.
Plötzlich bemerkte sie aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung, gleich links in den Kiefern. Sie versteinerte, Panik erfasste sie. Es war ein Mann, der sich leicht an einen Baum anlehnte. Er trug einen langen braunen Mantel und eine braune Wollmütze auf dem Kopf. Er schien zu ihnen hinüberzustarren. Molly war sofort aufgesprungen. Ihr Herz klopfte, und sie wollte Emma gerade festhalten, als ein Mann mit einer Golftasche aus den Bäumen heraustrat. Sie atmete hörbar aus. Die Iren und ihr ewiges Golfspiel, offenbar war es eine landesweit verbreitete Sucht. Überall gab es Golfplätze, natürlich auch auf dem Anwesen von Dromoland Castle. Sie hätte wetten mögen, dass die Schotten mit ihrem St. Andrews noch mehr Golf spielten als die Iren. Der Mann bemerkte, dass sie ihn anstarrte, nahm seine Golfmütze ab und wünschte ihr einen guten Morgen.
Sie winkte zurück und lief bis in die Zehenspitzen rot an, weil sie sich so leicht in Panik hatte versetzen lassen.
Und doch wusste sie, dass sie beim nächsten plötzlichen Auftauchen eines ihr unbekannten Mannes wieder genauso reagieren würde. Das würde sich erst ändern, wenn Emmas Entführer hinter Gittern war. Zur Zeit aber befand er sich nach wie vor auf freiem Fuß. Und er war immer noch hinter Emma her.
Zu diesem Zeitpunkt erledigte Ramsey gerade mehrere Telefonate, unter anderem erkundigte er sich bei Virginia Trolley von der Polizei in San Francisco, ob sie etwas Neues für ihn hatte. Emmas Sitzung mit dem Zeichner von der Polizei hatte einen etwa vierzigjährigen Mann mit schütterem Haar und einer scharfen Kinnlinie hervorgebracht. Seine Augen waren grau und standen weit auseinander. Er hatte merkwürdige Ohren, für seine Kopfform etwas zu groß, und sie standen ein wenig ab. Emma meinte, das sei der Grund, weswegen er eine Wollmütze trug. Er mochte seine Ohren nicht. Seine schlechten Zähne waren verräterisch. Molly konnte nur hoffen, dass der Typ nicht einen Besuch beim Zahnarzt einlegte.
Molly konnte nicht sagen - und das konnte niemand -, wie genau Emmas Beschreibung zutraf. Aber es war das Einzige, woran sie sich orientieren konnten. Das FBI und die Polizei in San Francisco hatten die Zeichnung erhalten.
Durch die Tatsache, dass jetzt ein Bild von ihm vorlag, waren sie ein wenig besser geschützt, dachte Molly. Aber tief in ihrem Inneren spürte sie, dass er dort draußen lauerte. Wenn sie in die Staaten zurück kehrten, würde er auf sie warten. Irgendwo. Emma und sie würden nicht nach Denver zurückkehren. Nein, sie würde mit ihr in eine vollkommen fremde Stadt ziehen. Sie würde ihren eigenen und Emmas Namen ändern. Sie würden verschwinden. Der Mann würde sie nicht mehr finden können. Von der Scheidung her hatte sie noch genügend Geld. Sie war eine gute Fotografin. Und sie würde noch besser werden. Sie würde ihre beruflichen Kontakte zwar wieder von null an aufbauen müssen, aber das war nicht weiter schlimm. Ihr bisher größter Auftrag war vor sechs Jahren gewesen, als sie Louey für den Rolling Stone fotografierte. Dort war sie bekannt, aber das war auch
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