Vergeben, nicht vergessen
des Wilden Westens.
»Was heißt denn >die Galle überlaufen«, wollte Emma wissen.
»Dinge, die der Leber schaden.«
Er beobachtete, wie sie die Worte ein paar Mal leise wiederholte. Er lächelte, als Molly auf die Knie fiel und Emma so fest umarmte, dass sie quietschte. Molly ließ sie los, und beide brachen in Lachen aus. »Das ist eines unserer Spiel-
chen«, erläuterte Molly. »Wenn Emma es schafft, dass ich sie eine ganze Minute lang umarmen kann, ohne irgendeinen Laut von sich zu geben, bekommt sie ein Eis. Meist gewinnt sie. Tue ich dir jetzt Leid, Emma?«
»Ich wollte dich nur einmal ganz breit lachen sehen, Mama.«
»Das hast du geschafft.«
Molly hatte nur eine einzige Reisetasche dabei, Emma ihren Kopfkissenbezug und Ramsey zwei Koffer. Er hatte die alte Schreibmaschine seiner Mutter samt all den Seiten, die er vor Emmas Ankunft geschrieben hatte, und noch ein paar Bücher und Romane im Jeep verschlossen. Die Hotelleitung brachte ihm ein zu kurzes Gästebett, aber er schüttelte nur verneinend den Kopf, als sie protestieren wollte.
Ramsey hätte es nichts ausgemacht, auf dem Boden zu schlafen. Sein Bein schmerzte wie verrückt, er hatte Kopfweh und hätte am liebsten gegen die Wand geboxt. Molly stand mitten im Zimmer und fuhr sich mit der Hand durch ihr leuchtend rotes Haar.
Er lächelte. »Soll ich Emma baden? Nein, das nehme ich zurück. Sie kann schon alleine baden.«
»Sonderlich geschickt stellt sie sich nicht an, aber sie bemüht sich.« Molly griff sich Emma und schnüffelte hinter ihren Ohren. »Riecht gut. Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Soll ich dich diesmal baden, Em? Zur Abwechslung?«
Emma nickte zufrieden.
Molly wandte sich Ramsey zu, der gleich zusammenzuklappen schien. »Legen Sie sich jetzt erst einmal hin. Ich besorge Ihnen Aspirin. Möchten Sie Eis für Ihr Bein?«
»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Warum nicht?«
»Gut. Legen Sie sich hin, Ramsey. Ich bin gleich wieder da.«
Nachdem sie ihm beim Schlucken von drei Aspirin zugesehen und ihm dann das Eis, in ein Handtuch verpackt, auf sein bandagiertes Bein gelegt hatte, sagte sie: »Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, wenn wir nicht in die Cantina gingen?«
»Ich erkundige mich mal, ob sie einen Zimmerservice haben.«
Den hatten sie, allerdings nur gegen einen Aufpreis von fünfzig Dollar. So ist das eben in Aspen, dachte er, als er in sein Zehn-Dollar-Taco biss.
Nachdem sie ein gutes halbes Dutzend Rindfleischtacos und genügend Chips und Soße für ein ganzes Fußballteam gegessen hatten, setzte bei ihnen allen die Müdigkeit ein. Emma hatte noch etwas Avocadocreme an ihrem Kinn verschmiert und sah wunderschön aus. Keine zehn Minuten später schlief sie neben ihrer Mutter, nachdem sie sie dazu hatten antreiben können, sich die Zähne zu putzen.
Wenig später waren Molly und Ramsey ebenfalls eingeschlafen.
Molly wachte um Mitternacht auf, nachdem der letzte Schlag einer alten Standuhr draußen im Flur verklungen war. Der Schein einer schmalen Mondsichel drang durch das offene Fenster. Es war nicht allzu kalt, aber kalt genug, dass man sich die Bettdecke bis zum Kinn hochzog und sich von der frischen Luft das Gesicht streicheln ließ.
Es war das erste Mal, dass sie in den vergangenen zwei Wochen länger als drei Stunden geschlafen hatte. Sechzehn Tage, dachte sie und setzte sich auf, um zu Emma hinüberzusehen, die sich zu einem Ball zusammengerollt hatte und sich ein Kissen gegen den Bauch drückte. Ihr schönes Haar, jetzt nicht mehr zu einem Zopf gebunden, lag um ihren Kopf verteilt. Sie war in Sicherheit.
Sie spürte die Tränen in ihren Augen, fühlte, wie sie ihr langsam über die Wangen rannen. Sie hatten ein solches Glück gehabt. Sie war in dieser Sache zwar nicht die entscheidende Person gewesen, aber das hatte sie auch nicht erwartet.
Ramsey Hunt. Er hatte ihre Tochter gerettet. Und er hätte sie auch weiterhin beschützt, bis er sie sicher nach Hause gebracht hätte.
Schluchzend ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Nein, das war wirklich peinlich. Sie stopfte sich die Faust in den Mund.
»Molly? Ist alles in Ordnung?«
Wie hatte er sie hören können? Emma schlief immer noch tief. Leise sagte er: »Weinen Sie ruhig, das wird Ihnen gut tun. Bestimmt ist es die erste Gelegenheit für Sie, wirklich loszulassen. Wird Ihnen das gelingen?«
Sie fuhr zu weinen fort, und er redete weiter, ohne sonderlich viel zu sagen, einfach nur irgendwelche belanglosen Dinge. Dann: »Mama, was ist
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