Vergebung
zuckte mit den Schultern.
»Wie würden Sie die Glaubwürdigkeit dieser Darstellung einschätzen?«
»Es gibt da keine Glaubwürdigkeit. Es gibt da nur jede Menge Behauptungen über diverse Personen, und eine Geschichte ist fantastischer als die andere. Insgesamt untermauert ihre schriftliche Stellungnahme den Verdacht, dass sie an paranoider Schizophrenie leidet.«
»Können Sie irgendein Beispiel bringen?«
»Das offensichtlichste ist sicher die Schilderung der sogenannten Vergewaltigung, derer sich ihr rechtlicher Betreuer Bjurman schuldig gemacht haben soll.«
»Könnten Sie das bitte näher erläutern?«
»Die gesamte Schilderung ist sehr detailliert. Es ist ein klassisches Beispiel für die Art von grotesken Fantasien, wie Kinder sie oft haben. Es gibt viele ähnliche Fälle, zum Beispiel bei Inzestprozessen, in denen Kinder sich in ihre eigenen Widersprüche verwickeln, weil ihre Fantasie außer Kontrolle gerät. Das sind oftmals erotische Fantasien, wie auch Kinder in sehr frühem Alter sie haben können … ungefähr so, als würden sie sich einen Horrorfilm im Fernsehen ansehen.«
»Nun ist Frau Salander ja aber kein Kind, sondern eine erwachsene Frau«, warf Ekström ein.
»Ja, und man muss wohl noch eruieren, auf welchem geistigen Niveau sie eigentlich steht. Aber im Grunde haben Sie schon recht. Sie ist erwachsen, und wahrscheinlich glaubt sie selbst an die Schilderung, die sie hier abgegeben hat.«
»Sie meinen, das ist alles gelogen?«
»Nein. Wenn sie selbst glaubt, was sie da sagt, dann ist es nicht gelogen. Es zeigt nur, dass sie Fantasie und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten kann.«
»Sie ist also nicht von Anwalt Bjurman vergewaltigt worden?«
»Nein. Die Wahrscheinlichkeit ist als verschwindend gering einzustufen. Sie braucht einfach eine qualifizierte Behandlung.«
»Sie selbst kommen ja auch in Frau Salanders Erzählung vor …«
»Ja, das ist natürlich ein bisschen pikant. Aber auch hier gibt sie wieder nur einer Fantasie Ausdruck. Wenn wir dem armen Mädchen glauben wollten, dann wäre ich ja als pädophil …«
Lächelnd fuhr er fort:
»Aber das unterstreicht nur, was ich die ganze Zeit gesagt habe. In Salanders Biografie erfahren wir, dass sie misshandelt wurde, indem man sie den Großteil ihrer Zeit in St. Stefan an ein Stahlbett fesselte, und dass ich nachts in ihr Zimmer gekommen bin. Das ist fast schon ein klassisches Beispiel für ihre Unfähigkeit, die Wirklichkeit richtig zu deuten, oder besser gesagt, es illustriert, wie Frau Salander die Wirklichkeit deutet.«
»Danke. Wenn die Verteidigung noch Fragen haben sollte - ich bin hiermit fertig.«
Nachdem Annika Giannini in den ersten zwei Tagen der Gerichtsverhandlung kaum Fragen oder Einwände vorgebracht hatte, erwarteten alle, dass sie auch jetzt wieder nur pflichtschuldigst ein, zwei belanglose Fragen stellen würde. Die Verteidigung ist derart miserabel, dass es fast schon peinlich ist , dachte Ekström bei sich.
»O ja. Die habe ich allerdings«, sagte Annika Giannini. »Ich habe in der Tat so einige Fragen, deren Beantwortung eine geraume Zeit in Anspruch nehmen wird. Ich schlage vor, dass wir jetzt für die Mittagspause unterbrechen, sodass ich meine Vernehmung des Zeugen anschließend ohne Unterbrechung durchführen kann.«
Woraufhin Richter Iversen eine Mittagspause anordnete.
Curt Svensson war in Begleitung von zwei uniformierten Polizisten, als er um Punkt 12 Uhr mittags vor dem Restaurant »Mäster Anders« in der Hantverkargatan seine gewaltige Pranke auf Kommissar Nyströms Schulter legte. Nyström blickte verwirrt zu Curt Svensson auf, der ihm seinen Dienstausweis unter die Nase hielt.
»Herr Nyström? Sie sind hiermit festgenommen, weil Sie des Mordes und des versuchten Mordes verdächtigt werden. Die Anklagepunkte werden Ihnen heute Nachmittag bei Ihrem Termin vor dem Haftrichter vom Generalstaatsanwalt mitgeteilt. Ich schlage vor, Sie kommen freiwillig mit«, sagte Curt Svensson.
Nyström sah aus, als hätte Svensson chinesisch gesprochen. Aber es war ihm vollkommen klar, dass Curt Svensson ein Mann war, dem man besser keinen Widerstand leistete.
Kriminalinspektor Bublanski war in Begleitung von Sonja Modig und sieben uniformierten Polizisten, als der Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Stefan Bladh sie um Punkt 12 Uhr mittags in die geschlossene Abteilung ließ, die die Domäne der Sicherheitspolizei auf Kungsholmen darstellte. Sie liefen durch die Korridore, bis Bladh stehen blieb
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