Vergebung
»Nein, bitte nicht!«, und dann sah sie, wie sie einen Schritt zurücktrat und dabei gegen die Kollegin stieß, die hinter ihr stand.
»Er ist bewaffnet. Lauf weg!«
Annika beobachtete, wie die beiden Schwestern im Nebenzimmer Schutz suchten.
Im nächsten Moment sah sie den grauhaarigen, dünnen Mann mit dem Pepita-Sakko auf den Flur treten. Er hatte eine Pistole in der Hand. Annika erkannte in ihm den Mann wieder, der mit ihr im Fahrstuhl nach oben gefahren war.
Dann trafen sich ihre Blicke. Er wirkte verwirrt. Sie sah, wie er die Waffe in ihre Richtung drehte und einen Schritt auf sie zu machte. Schnell zog sie den Kopf zurück, warf die Tür zu und blickte sich verzweifelt im Zimmer um. Direkt neben ihr stand ein hoher Tisch. Sie zog ihn mit einer einzigen Bewegung vor die Tür und verkeilte die Tischplatte unter der Klinke.
Sie nahm eine Bewegung wahr und sah, dass Lisbeth Salander wieder aus dem Bett klettern wollte. Mit wenigen Schritten war sie bei ihrer Mandantin, schlang die Arme um sie und hob sie hoch. Die Elektroden und Infusionen riss sie ab, als sie sie zur Toilette trug und auf den Klodeckel setzte. Nachdem sie sich umgedreht und die Toilettentür abgeschlossen hatte, zog sie ihr Handy aus der Jackentasche und wählte die 112.
Evert Gullberg ging zu Lisbeth Salanders Zimmer und versuchte, die Klinke herunterzudrücken, doch sie ließ sich um keinen Millimeter bewegen.
Für einen Moment blieb er unschlüssig vor der Tür stehen. Er wusste, dass Annika Giannini dort drin war, und fragte sich, ob sie wohl eine Kopie von Björcks Bericht in der Tasche hatte. Er konnte das Zimmer allerdings nicht betreten, und um die Tür mit Gewalt zu öffnen, fehlten ihm die Kräfte.
Aber das gehörte ja auch alles gar nicht zum Plan. Clinton würde sich um die Bedrohung kümmern, die von Giannini ausging. Sein Job war nur Zalatschenko gewesen.
Gullberg ließ seinen Blick über den Korridor schweifen und merkte, dass ihn zwei Dutzend Schwestern, Patienten und Besucher durch halb geöffnete Türen beobachteten. Er hob die Pistole und gab einen Schuss auf ein Bild ab, das am Ende des Flurs an der Wand hing. Wie von Zauberhand war sein Publikum verschwunden.
Schließlich warf er einen letzten Blick auf die verbarrikadierte Tür, ging dann entschlossen zurück in Zalatschenkos Zimmer und machte die Tür zu. Er setzte sich auf den Besucherstuhl und betrachtete den russischen Überläufer, der über viele Jahre hinweg ein so intimer Teil seines eigenen Lebens gewesen war.
Fast zehn Minuten lang blieb er unbeweglich sitzen, bis er Geräusche auf dem Flur hörte und wusste, dass die Polizei eingetroffen war. Er dachte an nichts Besonderes.
Dann hob er die Pistole ein letztes Mal, richtete sie gegen seine eigene Schläfe und drückte ab.
Evert Gullberg wurde in aller Eile in den Operationssaal transportiert, wo Dr. Anders Jonasson ihn in Empfang nahm und sofort umfassende lebenserhaltende Maßnahmen ergriff.
Zum zweiten Mal binnen weniger Tage führte Jonasson eine Notoperation durch, bei der er ein Vollmantelgeschoss aus menschlichem Hirngewebe entfernte. Nach der fünfstündigen Operation war Gullbergs Zustand weiter kritisch.
Seine Verletzungen waren wesentlich ernster als diejenigen, die Lisbeth erlitten hatte. Mehrere Tage schwebte er zwischen Leben und Tod.
Mikael Blomkvist war gerade in der »Kaffebar« in der Hornsgatan, als er in den Radionachrichten hörte, ein namentlich nicht genannter 66-jähriger Mann, der des Mordversuchs an Lisbeth Salander verdächtigt wurde, sei im Sahlgrenska-Krankenhaus in Göteborg erschossen worden. Er setzte seine Tasse ab, griff sich seine Laptoptasche und eilte in die Redaktion. Als er gerade den Mariatorget überquert hatte und in die St. Paulsgatan einbog, piepte sein Handy.
»Blomkvist.«
»Hallo, hier ist Malin.«
»Ich hab die Nachricht schon gehört. Wisst ihr, wer geschossen hat?«
»Noch nicht. Henry Cortez versucht, was rauszukriegen.«
»Ich bin schon auf dem Weg zu euch. In fünf Minuten bin ich da.«
In der Tür stieß Mikael mit Henry zusammen, der gerade gehen wollte.
»Ekström hält um 15 Uhr eine Pressekonferenz ab«, sagte Henry. »Ich fahr jetzt runter nach Kungsholmen.«
»Was wissen wir?«, rief Mikael ihm nach.
»Frag Malin«, rief Henry zurück und verschwand. Mikael ging auf Erika Bergers … falsch, auf Malin Erikssons Zimmer zu. Sie telefonierte gerade und machte sich hektisch Notizen. Als sie ihn erblickte, machte sie eine
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