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Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Hastrup
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gleichzeitig hatte sie das
Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Sie beschloss, ins Präsidium
zurückzufahren und die Unterlagen zum Mordfall Lene Eriksen durchzugehen. Auf
dem Rückweg hielt sie an der Tankstelle, tankte und versorgte sich mit mehreren
Tüten Weingummi und Lakritz. Langsam wird das zu einer schlechten Angewohnheit,
dachte sie, als sie merkte, dass der Hosenbund ein bisschen kniff.
    —
    Jens Anker machte einen
ärgerlichen Eindruck, als er Michael in sein kleines Haus bat. Michael folgte
ihm durch die schmale Diele und konnte schon am Gang des Mannes erkennen, dass
er sich durch seine Gegenwart stark eingeschüchtert fühlte.
    »Ich verstehe wirklich nicht, warum
ich meine Geschichte noch einmal erzählen soll. Ihre Kollegin war neulich hier,
und wir haben uns sehr gut unterhalten.« Er zeigte auf das Sofa, und Michael
wurde plötzlich von der kindischen Lust überfallen, den Therapeuten ein wenig
schmoren zu lassen. Er ging langsam zu dem Sofa hinüber, nahm Platz und blieb
mehrere Minuten sitzen, ohne ein Wort zu sagen. Er war sich nicht sicher, ob
diese Methode unter das kognitive Verhörprinzip fiel, doch sie wirkte. Der
Körpertherapeut wand sich in seinem Stuhl, bis er die Stille nicht mehr ertrug.
    »Was wollen Sie? Warum sind Sie hier?«, fragte er mit schriller
Stimme.
    Michael lehnte sich in die großen Kissen zurück und sah den Mann
ruhig an, der aussah, als würde er jeden Moment vor Wut abheben.
    »Sie haben meiner Kollegin nicht alles erzählt, Herr Anker.«
    »Doch, das habe ich.«
    »Sie haben ihr nichts von Lene Eriksen erzählt.« Michael griff nach
einem Kissen mit Fransen, an denen er eine Zeit lang herumnestelte, ohne den
Blick von dem Therapeuten abzuwenden, der langsam immer tiefer in seinen großen
Lehnstuhl sank.
    »Was meinen Sie damit?« Jens Anker presste die Worte heraus, und
Michael wurde klar, dass er aufrichtig überrascht war.
    »Sie haben meiner Kollegin nicht erzählt, dass Sie Lene Eriksen
gekannt haben. Dass Sie sie auf dem Gymnasium unterrichtet haben«, antwortete
Michael.
    »Ich habe sie so gut wie nicht gekannt. Was hätte ich ihr denn
erzählen sollen?« Jens Anker verbarg das Gesicht in den Händen.
    »Sowohl Lene als auch Anna wurden brutal ermordet. Finden Sie nicht,
dass es nur natürlich gewesen wäre, den alten Mord zu erwähnen, so etwas gehört
hier in der Stadt schließlich nicht zur Tagesordnung.«
    Jens Anker hatte das Gesicht noch immer in den Händen vergraben.
Jetzt zog er sie langsam weg. Er sah plötzlich gealtert aus. Die braune Farbe
des Sonnenstudios war verblasst, und ein feines Netz aus Falten trat deutlich
hervor.
    »Was ich sage, ist wahr. Ich habe sie kaum gekannt. Natürlich habe
ich gewusst, wer sie war, aber ich habe nur selten mit ihr gesprochen.«
    Michael legte das Kissen zur Seite.
    »Wie hat sie als Mensch auf Sie gewirkt?«
    Jens Anker dachte einen Augenblick nach.
    »Wie ein ganz normales fröhliches Mädchen beziehungsweise eine junge
Frau. Sie kam in der Schule gut zurecht, war weder herausragend gut noch
schlecht.«
    »Wie sah es mit ihrem sozialen Leben aus?«
    »Darüber habe ich nichts gewusst.«
    »Außer Ihnen scheinen sich alle an das Dreiecksdrama zwischen Lene,
Jane und John zu erinnern, aber das haben Sie vielleicht vergessen?«
    Jens Anker schüttelte energisch den Kopf.
    »Nein, das haben wir alle mitbekommen, aber Sie dürfen nicht
vergessen, dass ich Lehrer war und nicht immer verfolgt habe, was die
Jugendlichen in ihrer Freizeit gemacht haben.« Jens Anker zögerte plötzlich,
und Michael hatte das Gefühl, dass ihm irgendetwas eingefallen war.
    »Ich habe einmal ein Gespräch zwischen Jane und Lene mitgehört, in
dem Jane Lene beschuldigt hat, dass sie …« Jens Anker schluckte. »Jane hat Lene
beschuldigt, dass sie für John die Beine breitmacht in der Hoffnung, ihn an
sich zu binden. Dann hat Lene Jane vorgeworfen, ein altmodisches Tugendmonster
zu sein, und das konnte Jane offensichtlich nicht abstreiten.«
    »Haben Sie Jane auch für ein Tugendmonster
gehalten?«
    »Und ob. Sehr atypisch für die damalige Zeit. Aber solche Leute gibt
es nun einmal«, antwortete er und unterstrich damit, dass er in keinster Weise
so war.
    Michael erhob sich langsam. Mehr hatte er im Moment nicht. Sie waren
fast an der Haustür, als ihm ein Gedanke kam. Er sah Jens Anker freundlich an,
der erleichtert schien, dass das Gespräch beendet war.
    »Nur aus Neugier, wo haben Sie eigentlich Ihre Ausbildung

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