Vergeltung
vergessen Sie es«, sagte Michael und lächelte ihn flüchtig
an.
—
Kirsebærhaven bestand aus
einer großen Gruppe niedriger moderner Gebäude, die auf einem schönen grünen
Areal am Rand der Stadt lagen. Es duftete nach sonnengereiften Äpfeln, und
Rebekka drehte eine Runde durch den üppigen Garten, der die gelben Häuser
umgab. Die Anlage machte einen guten Eindruck, zumindest im Vergleich dazu, wie
die Senioren in Kopenhagen wohnten. In Kirsebærhaven hatte jeder Bewohner seine
eigene kleine Wohnung mit einer Terrasse zum Garten. Sie nickte einer Gruppe
älterer Frauen zu, die zusammen auf einer Bank saßen, das runzlige Gesicht der
Sonne zugewandt.
»Wo finde ich Rigmor Andersen?«,
fragte sie.
Die Frauen sahen sie freundlich an. In ihrem Haus wohne niemand mit
diesem Namen, aber sie könne es drüben im Pflegeheim versuchen, einem großen
gelben Haus, dreihundert Meter weiter den Weg hinunter. Rebekka bedankte sich
und spazierte hinüber. Sie betrat die große Rezeption und hoffte inständig,
dass es nicht zu spät war.
»Ja, hier wohnt eine Rigmor Andersen.« Eine Pflegerin mittleren
Alters lächelte Rebekka an. »Es geht ihr ausgezeichnet, aber sie ist etwas
einsam. Es kommt nicht so oft Besuch, vor allem wenn man keine Kinder und Enkel
hat. Wer sind Sie noch mal?«
»Eine alte Freundin aus der Schule«, antwortete Rebekka.
»Ach, aus der Schule. Sie erzählt so gern von der Schule.«
Die Pflegerin führte sie durch einen langen Gang, in dem es schwach
nach Kaffee, Putzmitteln und Urin roch. Sie klopfte leicht an eine Tür und
öffnete sie. In dem gemütlichen Zimmer saß eine ältere Frau in einem
bordeauxroten Plüschsessel mit dem Rücken zu ihnen. Rebekka erkannte sie
sofort.
»Hier wohnt Rigmor Andersen. Rigmor, Sie haben Besuch«, sagte die
Pflegerin der Frau laut ins Ohr, die Rebekka langsam das Gesicht zuwandte. Als
sie Rebekka sah, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus,
und sie öffnete die dünnen Arme und rief mit geschwächter Stimme: »Rebekka,
liebe Rebekka.«
Sie umarmten sich innig. Rigmor Andersen roch noch genauso, wie
Rebekka sie in Erinnerung hatte – nach Puder, sauberer Wäsche und Kaffee. Mit
dem langen grauen im Nacken gewundenen Zopf, den wässrigen blauen Augen, die in
den sechzehn Jahren, die sie sich nicht gesehen hatten, noch blasser geworden waren,
aber nichts von ihrem Glanz eingebüßt hatten, war sie noch ganz die Alte.
»Bitte, Lise, könnten Sie uns wohl etwas Kaffee und Kuchen bringen?«,
fragte Rigmor Andersen, und Lise nickte freundlich und verschwand. Kurz darauf
kam sie zurück, versorgte sie mit Kaffee und Kuchen und ließ sie allein. Zu
Anfang war das Gespräch unbeholfen und stockend, doch als sie den Kaffee
getrunken und von dem Sandkuchen gegessen hatten, kam die Unterhaltung in Gang.
Rigmor Andersen wollte alles über Rebekkas Leben wissen, und Rebekka erzählte
ihr von Kopenhagen, der Polizeiausbildung, dem FBI und vor allem von einigen
ihrer spannenden Kriminalfälle. Rigmor Andersen hörte interessiert zu und stieß
hin und wieder entzückte Zwischenrufe aus.
»Es ist dir gut ergangen, mein Mädchen. Ausgezeichnet.« Sie
tätschelte Rebekkas Hand, und Rebekka spürte eine stille Freude. Es war nicht
selbstverständlich gewesen, dass sie so gut zurechtkommen würde, als sie damals
mit abgekauten Fingernägeln und tief in ihrer Trauer vergraben im Wohnzimmer
ihrer Lehrerin gesessen hatte.
»Es freut mich so sehr, dass du es so weit gebracht hast.« Rebekka
nickte und hätte sich am liebsten der alten Dame um den Hals geworfen und ihr
von den heftigen Albträumen erzählt, unter denen sie litt, seit sie
zurückgekehrt war, und von dem Loch in ihr, das keinen Boden zu haben schien.
Sie hatte die Vergangenheit in keinster Weise überwunden. Ganz im Gegenteil.
»Haben Sie keine alten Fotos, die wir uns ansehen können?«, schlug
sie stattdessen vor, um auf andere Gedanken zu kommen. Rigmor Andersen strahlte
vor Freude.
»Aber natürlich. Kannst du sie bitte holen, sie sind da drüben in
der Schachtel, die in dem Regal steht.« Sie zeigte auf eine Schachtel in einem
niedrigen dunklen Regal und Rebekka sprang bereitwillig auf und holte sie. Die
nächste Stunde verging damit, die Vergangenheit mithilfe der vielen Fotografien
aufleben zu lassen. Rigmor Andersen erzählte lustige Anekdoten aus ihrem Leben,
Rebekka lachte, und das Dunkel verzog sich. Unter den Fotografien war ein
verblasstes Schwarz-Weiß-Bild von einer sehr
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