Vergeltung
jungen Rigmor Andersen mit schönem
welligem Haar in einer weißen Bluse und einem Faltenrock. Sie blickte mit einem
schüchternen Lächeln in die Kamera. Neben ihr stand ein junger Mann. Er sah
schräg auf sie herab, und die Intimität zwischen ihnen war unübersehbar.
»Wer ist das?«, fragte Rebekka und reichte das Bild Rigmor Andersen,
die ihre Lesebrille, die auf der Stirn saß, wieder auf den Nasenrücken schob.
»Zeig mal.« Sie lachte, als sie das Foto sah. »Das bin ich, liebe
Rebekka.«
»Das sehe ich«, sagte Rebekka. »Ich meine den Herrn.«
»Das ist Knud, Knud Bækkegaard«, antwortete Rigmor Andersen, und
Rebekka starrte sie sprachlos an.
» Sie waren mit Knud Bækkegaard zusammen?«
»Ob wir zusammen waren? Ach, du meine Güte, nein, so würde man das
heute wohl kaum nennen, wo die Leute einfach so miteinander ins Bett gehen.
Nein, wir haben eine Zeit lang miteinander geflirtet, aber ansonsten waren wir
wohl das, was man gute Freunde nennt. Das waren wir noch über viele Jahrzehnte,
doch jetzt ist der Kontakt leider eingeschlafen.«
Rebekka sah Rigmor Andersen weiter staunend an, und die alte Dame
schmunzelte über ihre Reaktion.
»Übrigens bin ich auch etwas älter als er. Ein Jahr, glaube ich«,
sagte sie fröhlich, und Rebekka lachte laut und wunderte sich, wie klein die
Stadt doch war.
»Können Sie sich erinnern, wie die Familie Bækkegaard reagiert hat,
als Lene Eriksen ermordet wurde? Jane war doch mit ihr befreundet«, sagte sie
ernst.
»Das war sehr traurig. Jane war völlig fertig und hatte Angst, nicht
zuletzt weil ihr Freund, John Mathiesen, von der Polizei verdächtigt wurde.«
Rigmor Andersen blickte traurig vor sich hin.
»Glauben Sie, dass Jane John verdächtigt hat?«
Rigmor Andersen sah sie überrascht an.
»Das glaube ich ganz sicher nicht«, antwortete sie entschieden und
nahm Rebekka die Schachtel mit den alten Fotografien ab. Sie kramte ein wenig
in den Bildern und zog eine Ansichtskarte heraus.
»Guck mal, hier ist eine Ansichtskarte von Knud, und von Jane und
Sonja natürlich. Sie waren in den Ferien in Cannes in Frankreich, es war ihre
erste gemeinsame Auslandsreise. Etwas Ablenkung tat Jane gut, denn zu der Zeit
kriselte es zwischen ihr und John.«
Rebekka griff nach der Ansichtskarte, einer Fotografie der
Strandpromenade von Cannes. Die Karte war auf Dienstag, den 22. Juni 1984,
datiert – gut drei Monate vor dem Mord an Lene Eriksen.
Liebe Rigmor,
ein kurzer Gruß von uns dreien. Wir genießen
den Aufenthalt in Cannes in vollen Zügen. Wir sind fleißige Touristen und
besuchen begeistert die phantastischen Kirchen und Museen, die es hier gibt.
Jane genießt es ebenfalls, uns auf den verschiedensten Exkursionen zu
begleiten, obwohl auch die wunderbare Strandpromenade mit ihrem pulsierenden
Leben sie fasziniert.
Viele liebe Grüße
Jane, Sonja und Knud
»Abendessen.« Es klopfte
an Rigmor Andersens Tür, und eine Angestellte steckte den Kopf ins Zimmer.
»Ich habe keine Zeit zu essen. Ich
habe Besuch«, erwiderte Rigmor Andersen und lachte Rebekka verschwörerisch an,
die sich erhob und sagte, dass sie ohnehin gehen müsse.
»Geben Sie uns noch Zeit, Abschied zu nehmen«, sagte Rigmor Andersen
zu der Pflegerin, die nickte und die Tür schloss.
»Liebe Rebekka.« Rigmor Andersen erhob sich auf wackligen Beinen.
»Ich habe nicht genug Worte, um dir zu sagen, wie sehr es mich gefreut hat,
dass du dir heute Zeit für mich genommen hast.« Tränen stiegen der alten Dame
in die Augen, und Rebekkas Herz schnürte sich in der Erkenntnis zusammen, dass
ein Besuch aus der Vergangenheit so viel bedeuten konnte.
»Jetzt haben wir gar nicht mehr über deinen Fall reden können. Über
Anna Gudbergsen.«
»Ich habe doch Schweigepflicht. Aber haben Sie sie gekannt?«, fragte
Rebekka, während sie ihren Mantel zuknöpfte.
Die alte Dame schüttelte den Kopf und schlug mit dem Stock auf den
Boden.
»Ich hoffe und bete, dass du den richtigen Mörder findest, Rebekka.
Es war so schwer für John damals, als Lene Eriksen ermordet wurde. Die Polizei
hatte ihn ununterbrochen im Visier. Er kommt aus bescheidenen Verhältnissen,
war aber sehr begabt und äußerst charmant. Das ist er immer noch.«
Rebekka tätschelte Rigmor Andersen den schmächtigen Arm. »Wir tun
alles, was wir können, um den Fall aufzuklären. Wirklich alles.«
Kurz darauf verließ sie Rigmor Andersen mit einem guten Gewissen,
weil sie ihre alte Förderin besucht hatte. Doch
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