Vergeltung
vermutlich von Anna. Rebekka steckte sie
in eine Tüte und sah sich um. Sie hörte Michael im Wohnzimmer rumoren. Dann
ging sie den Kleiderschrank durch. Links hingen ein paar frisch gebügelte
Herrenhemden und ein paar Herrenhosen mit Bügelfalte und auf der rechten Seite
ein paar Kleider in Größe sechsunddreißig. An einigen hingen noch die
Preisschilder. In den Schubladen lagen Socken, Unterwäsche und T-Shirts, für
Herren und für Damen. Rebekka hatte das unangenehme Gefühl, vor dem Schrank
eines Paars zu stehen und nicht vor dem Kleiderschrank von Vater und Tochter.
Sie kam nicht an die obersten Schrankfächer heran und holte sich einen Stuhl.
Oben im Schrank stand ein kleiner Schuhkarton. Sie öffnete ihn. Er war voller
Quittungen. Sie fühlte, wie sich Enttäuschung in ihr breitmachte, als sie sich
durch die Quittungen von Bilka, Kvickly, Vero Moda und H&M wühlte. Dann
fiel ihr Blick auf eine Visitenkarte.
JENS ANKER
Körpertherapeut
Spezialgebiet Ängste und Depressionen
Grønnegade 18, 6950 Ringkøbing
Telefon: 26 18 66 49
täglich zwischen 8.00 und 9.00 Uhr
Sie stutzte und überlegte,
ob die Karte Gert oder Anna Gudbergsen gehörte, und kam schnell zu dem Schluss,
dass sie Anna gehören musste. Sie konnte sich Gert nicht als Patienten bei
einem Körpertherapeuten vorstellen, was immer man darunter zu verstehen hatte.
Sie nahm die Schachtel unter den Arm, sprang von dem Stuhl und sah sich noch
einmal um.
»Rebekka«, rief Michael aus dem Bad.
»Sehen Sie sich das an. Ich habe sie ganz hinten im Schrank gefunden.« Er hielt
eine Toilettentasche voller Kondome in den unterschiedlichsten Variationen in
der Hand. »Jemand hat diese Wohnung nicht nur zum Übernachten benutzt.«
»Anna kannte wohl den einen oder anderen hier in der Stadt, mit dem
sie Sex gehabt hat, und Gert Gudbergsen vermutlich auch«, stimmte Rebekka ihm
zu. Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Hier ist nur ein Bett. Ich möchte wissen,
ob sie gemeinsam hier übernachtet haben.«
»Es muss nichts Kriminelles passieren, nur weil ein Vater mit seiner
Tochter im selben Bett schläft«, antwortete Michael und dachte liebevoll an
Amalie, die sich eigentlich jede Nacht zu ihm ins Bett schlich, wenn sie bei
ihm übernachtete. Dann räkelten sie sich beide gemütlich unter der Decke, und
Michael genoss die Wärme des kleinen schlafenden Körpers.
—
Es dämmerte, als sie
zurück nach Ringkøbing fuhren. Die Landschaft wogte wie in Blau gemalt an ihnen
vorbei.
Michaels Handy klingelte. Es war
David. Michael reichte das Handy mit der Info an Rebekka weiter, dass er am
Steuer saß, und Rebekka hatte Davids mürrische Stimme im Ohr. Der
toxikologische Bericht des rechtsmedizinischen Instituts war eingetroffen.
Der Test auf Drogen war negativ, doch Annas Blutalkoholgehalt hatte
knapp ein Promille betragen, was bedeutete, dass sie angetrunken gewesen war,
als sie starb. Ihr Computer war durchforstet worden, ohne dass etwas Interessantes
dabei herausgekommen war. Auf der Festplatte waren einige Studienarbeiten gespeichert.
Sie hatte ein Profil bei MySpace und hauptsächlich
mit gleichaltrigen Mädchen gechattet. Auch auf ihrem Handy waren keine
verdächtigen Nummern gespeichert. Sie hatte oft das Handy ihres Vaters
angerufen, Katja und Mia sowie die Familie Mathiesen.
»Sie musste die Familie Mathiesen anrufen, wenn sie mit Erik
sprechen wollte«, schloss David, »er hat nämlich kein eigenes Handy.«
Rebekka bedankte sich und legte auf.
»Warum besteht David darauf, Ihnen vor mir Bericht zu erstatten?«
Rebekka blickte Michael im Zwielicht an. Die breiten Hände ruhten auf dem
Lenkrad, und er hatte ein schönes Profil, wie ihr jetzt auffiel, wo sie Zeit
hatte, ihn zu betrachten.
»Ich glaube, das ist einfach eine alte Gewohnheit. Er und ich sind
seit Längerem Kollegen, seit fünf Jahren, um genau zu sein, und wir informieren
uns immer zuerst gegenseitig, bevor wir zu Teit gehen.«
Michael klang ruhig, aber müde.
»Ich habe ausdrücklich darum gebeten, als Erste informiert zu
werden. Es wundert mich, dass er sich meiner Anweisung widersetzt, als würde er
mich bewusst hintergehen. Er trägt irgendeinen Machtkampf mit mir aus.«
»Rebekka, dem ist nicht so. David ist okay, das garantiere ich Ihnen.
Wir sind es nur nicht gewohnt, dass jemand von außen uns Befehle erteilt. Er
wird sich schon noch an Sie gewöhnen.« Michaels Stimme hatte sich verändert,
war härter geworden.
»Okay, ich gebe ihm eine Chance«, sagte Rebekka
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