Vergeltung
kraftvollen Stimme.
»Ich kann mich gut an ihn erinnern. Er hat mich konfirmiert und uns
Konfirmanden fast zu Tode erschreckt. Er hat zeternd auf der Kanzel gestanden,
und wir alle hatten eine Riesenangst vor ihm. Die arme Jane Mathiesen. Es muss
der reinste Albtraum gewesen sein, ihn als Vater zu haben. Da scheint John
Mathiesen trotz allem vertrauenswürdiger.«
Michael lachte laut.
»Sehen Sie. Sie wissen vermutlich mehr über die Familie als ich.
Vergessen Sie nicht …«
»… dass Sie aus Kolding sind«, unterbrach ihn Rebekka und lachte.
»Wenn wir anderen nur auch so viel Glück gehabt hätten.«
Michael sah sie ernst an.
»Wie ist es, wieder in Ringkøbing zu sein? Soweit ich das verstanden
habe, waren Sie viele Jahre nicht hier?«
»Ja, ziemlich lange. Sechzehn Jahre, um genau zu sein«, antwortete sie
mit einem leichten Seufzer, »und es ist sehr, sehr seltsam. Ich glaube, ich
habe es noch immer nicht richtig begriffen. Damals ist etwas Furchtbares
passiert, wissen Sie …« Sie geriet ins Stocken. Die Worte wollten ihr nicht
über die Lippen kommen, und sie sagte schnell: »Ich erzähle Ihnen die
Geschichte ein anderes Mal. Aber eigentlich fühle ich mich ganz wohl hier. Anna
Gudbergsen nimmt glücklicherweise den größten Teil meiner Zeit in Anspruch,
sodass ich nicht so oft dazu komme, mir über die Vergangenheit Gedanken zu
machen.«
Rebekka versuchte, möglichst locker zu klingen, sprach jedoch nicht
weiter. Sie hatte das deutliche Gefühl, dass Michael gerne mehr erfahren hätte,
sich aber nicht traute, nachzufragen. Hastig warf sie einen Blick auf die Uhr.
»Was halten Sie davon, wenn wir Mia Hansen und Katja Korsgaard einen
kurzen Besuch abstatten? Sie teilen sich eine Wohnung in Smøgen, und ich könnte
mir gut vorstellen, mich einmal mit ihnen zu unterhalten – in
persona .«
—
Die Wohnung war eine der
wenigen großen herrschaftlichen Wohnungen der Stadt, so eine, in der Rebekka
gerne gewohnt hätte, als sie jünger war.
Mia öffnete die Tür in einem
hellroten Bademantel und mit einem Handtuch um den Kopf.
»Was wollen Sie?«, fragte sie und zog den Bademantel fester um sich.
Katja tauchte hinter ihr auf, ebenfalls im Bademantel, das nasse Haar fiel ihr
jedoch offen über den Rücken.
»Wir würden sehr gerne persönlich mit Ihnen reden«, antwortete
Michael und trat in die große Diele.
»Wir haben doch schon alles gesagt, was wir wissen«, sagte Katja,
die offensichtlich die Dominante von den beiden war, und ziemlich hübsch, wie Rebekka
feststellte.
»Ich muss gleich zur Arbeit«, fügte Mia hinzu und zog eine Schnute.
Sie war klein, etwas mollig, und ihre runden Wangen zierten kleine hellbraune
Sommersprossen.
Rebekka lächelte sie entgegenkommend an.
»Wir konnten letztes Mal nicht selbst mit Ihnen reden. Aber wir
wissen aus Erfahrung, dass einem im Lauf der Zeit oft noch etwas einfällt. Wir
sind sicher, dass Sie alles tun werden, um uns zu helfen, Annas Mörder zu
fassen.«
Das saß. Die Mädchen sahen plötzlich niedergeschlagen aus und boten
ihnen Tee in dem großen, hellen Eckzimmer an. Alle drei waren seit der ersten
Klasse Freundinnen gewesen. Anna war die natürliche Anführerin gewesen, schön
und beliebt, eine Position, die Mia und Katja von Anfang an akzeptiert hatten.
Trotz ihrer Beliebtheit war Anna ein ganz gewöhnliches Mädchen geblieben, das
mit Barbiepuppen gespielt hatte und zum Handball und in die Tanzschule gegangen
war. In der Pubertät hatte sie sich verändert. Sie hatte unter heftigen
Stimmungsschwankungen gelitten und konnte plötzlich richtiggehend boshaft
werden, vor allem Mia gegenüber. Sie hatten gespürt, dass Anna etwas quälte,
doch wenn sie sie danach gefragt hatten, hatte sie nur gelacht und die Frage
vom Tisch gefegt.
Rebekka sah sich in dem großen Raum um, einem typischen
Jungmädchenzimmer mit einem Sammelsurium aus unterschiedlichen Möbeln und einer
gigantischen Stereoanlage. In einer Ecke stand ein schöner, alter schwedischer
Kachelofen, und Rebekka seufzte leise vor Neid. So einen hatte sie sich immer gewünscht.
»Warum hat Anna nicht mit Ihnen zusammengewohnt?«, fragte sie. »Ich
meine, die Wohnung ist doch groß genug für drei?«
Mia zuckte mit den Schultern.
»Sie hätte gerne hier gewohnt, aber ihr Vater wollte nicht zahlen.
Sie hatte schließlich eine tolle Wohnung im Haus ihrer Eltern. Außerdem hat sie
oft in Esbjerg übernachtet.«
»In Esbjerg?« Rebekka sah Mia fragend an.
»Ja, wenn sie an der Uni
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