Vergeltung
der Sportjacke
hochgeschlagen, die Hände in den Taschen vergraben. Ein Fernfahrer hatte ihn
bis hierhin mitgenommen, ein netter Typ, der sich für Countrymusik begeisterte
und nie Radio hörte – wie er behauptete –, und jetzt waren es nur noch wenige
Kilometer bis zu seinem Ziel. Eine Welle ergoss sich bis hoch auf den Sand, und
eiskaltes Meerwasser drang langsam in seine weißen Adidas-Turnschuhe. O nein,
jetzt würde der Verband nass werden und musste gewechselt werden. Er hatte
nichts dabei, nur die Sachen, die er auf dem Leib trug, und er hoffte
inständig, dass das milde Wetter noch ein paar Tage anhielt. Glücklicherweise
war er vorausschauend genug gewesen und hatte Bargeld an einem Geldautomaten
abgehoben, sodass er erst einmal flüssig war.
Er blieb einen Augenblick stehen. Der Fuß pochte, und er spürte den
Schweiß seinen Rücken hinunterlaufen. Er verstand das nicht. Er war den
Handlungsverlauf der Nacht immer wieder durchgegangen, ohne in irgendeiner
Weise weiterzukommen. Wer war im Haus eingebrochen, um den Golfschläger bei ihm
zu deponieren? Er zweifelte nicht daran, dass es genau der Golfschläger war,
mit dem Anna Gudbergsen getötet worden war. Er war zum Sündenbock auserkoren
worden. Die Ereignisse der Nacht, Herrn Larssons erschrockener Blick und der
dumpfe Knall, als der Kopf des alten Mannes auf der Treppe aufschlug, ließ Alex
noch einmal Revue passieren. Er bedauerte, dass er Herrn Larsson gegenüber so
heftig reagiert hatte, er gehörte zu den wenigen Menschen, die ihn immer
freundlich behandelt hatten. Alex krümmte sich bei dem Gedanken und hoffte,
dass es dem Mann den Umständen entsprechend gut ging. Er musste sich bei ihm
entschuldigen, ihm das Ganze erklären – irgendwann. Das mit dem Golfschläger
war viel schlimmer. Wie sollte er die Polizei von seiner Unschuld überzeugen?
Sie hatten ihn im Visier. Das spürte er. Für sie war alles klar. Er hatte mit Anna geflirtet, er hatte kein
Alibi für die Nacht, er hatte eine Vorstrafe wegen
Körperverletzung, und jetzt hatte er seinen Vermieter
niedergeschlagen. Das sah nicht gut aus. Sie würden ihn festnehmen, verurteilen
und einsperren. Und den Schlüssel mit Sicherheit wegwerfen. In ihrer Welt war
er ein Nichts. Alex blieb vor Angst die Luft weg. Er spürte, wie seine Muskeln
sich verkrampften.
Er musste nachdenken, einen Plan machen. Er kramte in der Tasche,
und seine Hand schloss sich fest um den kleinen Schlüssel an dem Schlüsselbund.
Die Polizei hatte seiner Mutter bestimmt schon einen Besuch abgestattet. Alex
sah sie vor sich, ihr Schnauben und Stöhnen, die hässliche Jogginghose und das
ewige asthmatische Röcheln. Die Götter mochten wissen, wie sehr er sie
verabscheute, aber sie war seine Mutter, und er war ihr Sohn, und auch wenn sie
einander nur selten länger als ein paar Minuten ertragen konnten, bestand
zwischen ihnen ein unzertrennbares Band. Er lächelte vor sich hin. Sie hatte
ihnen bestimmt nichts von der Hütte in Hvide Sande erzählt. »Großvaters Sommerhaus«,
wie sie sie nannten, ein baufälliger Schuppen ohne warmes Wasser und mit
undichten Fenstern. Der Großvater war seit Langem tot, und die Hütte war
unbewohnt und bot eine herrliche Aussicht auf die brandende Nordsee. Hier
konnte er sich aufhalten, bis etwas Ruhe eingekehrt war.
Jetzt konnten es nur noch wenige Kilometer sein. Alex setzte sich
auf einen großen Stein, um sich etwas auszuruhen. Vorsichtig zog er den Schuh
aus. Das weiße Leder war dunkelrot verfärbt von Blut. Er spähte zum Horizont.
In der Ferne sah er zwei Boote mit weißen Segeln, die sanft auf den Wellen
schaukelten. Große Möwen kreisten über ihm und durchschnitten die Luft mit
ihren heiseren Schreien. Er zündete sich eine Zigarette an und fasste einen wichtigen
Entschluss. Er würde Annas Mörder finden. Nicht nur, um sich selbst von
jeglicher Schuld reinzuwaschen, sondern auch für Anna, obwohl er sie eigentlich
gar nicht gekannt hatte.
—
»Rebekka, was ist los? Ich
habe dir mindestens zehn Nachrichten auf deiner Mailbox hinterlassen.« Torsten
Krogh klang verärgert, und das zu Recht. Rebekka hatte seine Versuche, mit ihr
in Kontakt zu kommen, den ganzen Vormittag über ignoriert.
»Entschuldige, aber wir halten uns
ziemlich bedeckt. Hier geht es ein wenig chaotisch zu, um es einmal milde
auszudrücken.«
»Verstehe. Ich habe die Entwicklung des Falls mit Teit besprochen.
Er sagt, dass du daran festhältst, dass Alex Pedersen nichts mit dem Mord an
Anna
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