Vergeltung
grau, mit tiefen Furchen um Mund und Stirn. Er
war beträchtlich gealtert, seit Rebekka ihn vor zwei Tagen gesehen hatte.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«, fragte er müde und sah sie
beide an.
Rebekka räusperte sich, wohl wissend, dass ihr Gespräch mit dem
cholerischen Gert Gudbergsen nicht einfach werden würde.
»Wir haben Kondome in der Wohnung in Esbjerg gefunden.«
Rote Flecken breiteten sich auf Gert Gudbergsens Gesicht aus.
Michael schob ihm die durchsichtige Tüte mit den Kondomen hin. Gert
Gudbergsen würdigte sie keines Blicks.
»Sind das Ihre Kondome?«, fragte Rebekka und sah ihm in die Augen.
Er starrte zurück, hielt ihren Blick fest.
»Nein«, antwortete er.
»Dann sind das Annas Kondome«, fuhr sie fort.
»Das kann ich mir ganz und gar nicht vorstellen.« Gert Gudbergsens
Augen wurden schmal, er blickte auf den Tisch.
»Einer der Mieter im Haus hat uns erzählt, dass er hin und wieder
heftiges Weinen aus Ihrer Wohnung gehört hat. Von einer Frau. Außerdem hat er
des Öfteren mitbekommen, dass jemand lautstarken Sex in der Wohnung hatte.«
Gert Gudbergsens rote Gesichtsfarbe wurde noch dunkler, und er
sprang von seinem Stuhl auf.
»Das lasse ich mir nicht bieten.« Der Stuhl landete mit einem
ohrenbetäubenden Knall auf dem Boden. »Ich weiß nicht, was Sie mir zu
unterstellen versuchen, aber jetzt sind Sie zu weit gegangen. Ich bin nicht
bereit, mich damit abzufinden …« Plötzlich versiegte sein Redestrom, er griff
nach seinem linken Arm, stöhnte laut und sackte vor Rebekkas und Michaels Augen
langsam in sich zusammen.
Rebekka rief über die Sprechanlage nach Hilfe und kurz darauf war
das Büro voller Polizisten, die den aschfahlen Gert Gudbergsen schnell die
Treppe hinunter zu dem ebenfalls herbeigerufenen Krankenwagen brachten, der in
dem Moment mit heulenden Sirenen und Blaulicht auf den Parkplatz vor dem Polizeipräsidium
bog.
Rebekka und Michael blieben erschrocken zurück. Kurz darauf stand
Teit Jørgensen in der Tür.
»Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich erwarte, dass heute
Nachmittag ein Bericht über diesen Vorfall auf meinem Schreibtisch liegt.« Er
wartete keine Antwort ab, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand den Gang
hinunter.
—
Erik zündete sich die
erste Zigarette an diesem Tag an, während er auf einem Milchkasten im Hinterhof
des Cafés Himmelblå saß. Heute hatten sie nicht viele Gäste. Der Sommer war
vorbei, und so konnte er sich ruhig eine kurze Pause gönnen. Er inhalierte tief
und spürte, wie ein angenehmes Schwindelgefühl sich im Körper ausbreitete.
Jetzt sollten sie ihn sehen, die Alten. Wie er drauflosqualmte. Sie würden vor
Scham ohnmächtig werden, denn ihnen zufolge rauchten nur Kriminelle. Rauchen
war eine Sünde. Das sagte Großvater Bækkegaard immer. Der alte Idiot! Erik
erinnerte sich, was für eine Angst er und Kristian in ihrer Kindheit gehabt hatten,
wenn der Großvater groß und mächtig und mit buschigen Augenbrauen in die Diele
trat. Am schlimmsten war die kraftvolle Stimme, die durch das große Haus kroch,
sich durch Gänge und Räume wand, die Treppe hinauf und durch die Zimmer wogte,
bis sie ihr Kinderzimmer erreicht hatte, wo er und Kristian sich unter dem Bett
versteckt hatten. Erik schauderte, dann schob er den Gedanken beiseite, und
Anna tauchte vor seinem inneren Auge auf. Die zauberhafte Anna. Er konnte noch
immer nicht fassen, dass es sie nicht mehr gab. Nie mehr geben würde. Er
wartete die ganze Zeit darauf, dass sie zurückkam, mit ihrem fröhlichen Lächeln
die Tür des Cafés öffnete und sich an ihn schmiegte. Seine Brust zog sich
zusammen, und er fühlte sich völlig leer – als wäre in seinem Inneren ein
großes Loch –, wie er da auf dem Milchkasten in dem grauen Hinterhof saß,
während jemand in der Küche mit den Töpfen schepperte. Anna war seine Vertraute
gewesen. Sie verstand ihn, seine Angst und seine Einsamkeit. Sie schmiedeten Zukunftspläne,
wollten das Gleiche. Hatten die gleichen Träume. Er lächelte vor sich hin. Sie
hatten oft zusammen vor ihrem großen Spiegel gestanden und sich angesehen. Das
machte Spaß. Sie schnitten Grimassen, schworen, sich an Leuten zu rächen, die
sie nervten, äfften Familie und Freunde nach. Anna war seine Seelenverwandte,
sie waren eins. Manchmal dachte er sogar, dass sie sich physisch ähnlich sahen,
obwohl er dunkler und kräftiger gebaut war als sie. Die Augen, groß und mandelförmig,
die dunklen Augenbrauen und die Nasen, gerade und
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