Vergeltung
am liebsten in Ruhe gelassen
werden wollte. Sie versuchte, sich damit zu beruhigen, dass er einfach so war
und es nicht persönlich gemeint war. Trotzdem plagte sie das nagende Gefühl,
dass er gerade sie, seine Mutter, abwies, weil er sie nicht mochte.
Jane brachte Kenneth ins Bett.
Merkte, wie das schlechte Gewissen sich in ihr rührte, es war immerhin erst
halb acht, aber sie schaffte heute nicht mehr.
Kenneths Zimmer war klein, mit Aussicht auf den Wald. Die schrägen
Wände waren mit Plakaten von Nik & Jay, Kenneths großen Idolen,
vollgekleistert. Jane deckte ihn gut zu und streichelte ihm zärtlich die Wange.
Er lachte sie an. Trauer über sein Schicksal übermannte sie kurz. Mit monotoner
Stimme sang sie Die Sonne ist so rot, Mutter und gab
ihm einen Gutenachtkuss. Einen Moment stand sie unentschlossen in der Tür und
betrachtete ihn, wie er unter der karierten Decke lag, während sie überlegte,
wie sie ihn nach dem Medaillon fragen sollte. Obwohl sie Zeitungen und Fernseher
von Kenneth fernhielt, war das Risiko groß, dass er irgendwann an Anna erinnert
werden oder eine Fotografie des Schmucks sehen würde. Jane wagte nicht daran zu
denken, wie er an das Medaillon gekommen war. War er in der fraglichen Nacht im
Wald gewesen? Das konnte sie sich nicht vorstellen, doch Zweifel nagten an ihr.
Kenneth war immer gerne im Wald herumgelaufen. Als er ungefähr dreizehn war,
entdeckten sie, dass er auch gern nachts unterwegs war. Sie waren vor Angst
außer sich gewesen und hatten versucht, ihm zu erklären, dass er das nicht
durfte. John hatte sogar ein zusätzliches Schloss an der Tür angebracht, aber
trotzdem kam es vor, dass Kenneth für einige Stunden in der Dunkelheit
verschwand. Ihre Gedanken wanderten zu dem Sonntag zurück, das Wetter war vom
frühen Morgen an ungewöhnlich schön gewesen, und sie hatten auf der Terrasse
gefrühstückt.
Was war anschließend passiert? Sie konnte sich nicht erinnern, dass
Kenneth irgendwann weg gewesen war, aber sie wagte nicht, die anderen zu
fragen. Etwas Dunkles nahm in ihr Gestalt an, regte sich mit einer gewaltigen
Kraft, und sie eilte durch die Diele zu Johns Arbeitszimmer. Sie klopfte
vorsichtig an.
»Komm rein.« Jane öffnete vorsichtig die Tür und steckte lächelnd
den Kopf hinein. Im Arbeitszimmer war es halbdunkel. John saß vor dem Computer,
der seinem Gesicht einen blauen Ton verlieh. Er blickte nicht auf.
»Soll ich nicht das Licht anmachen? Es ist doch nicht schön, im
Dunkeln zu sitzen.«
»Nein, danke.« Johns Stimme war kühl, und ihre Hand hielt mitten in
der Bewegung zum Lichtschalter inne. »Ich sitze gerne im Dunklen – in aller
Ruhe.«
Jane spürte, wie sie innerlich ein Schauer überlief, als würde jede
einzelne Zelle in Alarmbereitschaft versetzt, und ihre Muskeln spannten sich
zum Kampf an. Tausend Fragen gingen ihr durch den Kopf. Warum verhielt er sich
so? Etwas war anders. Jane atmete durch ein Nasenloch tief ein und durch das
andere wieder aus. Sie hatte diese Technik in einem Meditationskurs gelernt,
der von der Bibliothek angeboten worden war. Obwohl sie Meditation eigentlich
für neumodischen Unsinn hielt, war sie hingegangen. Es half ein wenig, musste
sie zugeben, sie bekam ihren Atem unter Kontrolle und lächelte tapfer in die Dunkelheit.
»Gut, dann gehe ich wieder runter ins Wohnzimmer.« Schweigen. Sie
fuhr unbeirrt fort: »Ich bringe dir später eine schöne Tasse warmen Tee herauf.
Ich bin mir sicher, die kannst du gebrauchen.«
»Danke.« Bildete sie sich die Resignation in seiner Stimme nur ein?
Hastig ging sie in die Küche hinunter, um Tee zu kochen. Sie holte
ein schönes altes Tablett heraus, sein Lieblingstablett, das noch aus seinem
Elternhaus stammte, schöne, frisch gebügelte Servietten aus dickem weißem Stoff
und eine kleine Porzellanschale, in die sie vorsichtig kleine Stückchen
Valrhona-Schokolade legte. Sie griff nach der Dose mit den leckeren Keksen.
Alle sagten, dass es die besten waren. Sie summte leise, während sie das
Tablett richtete. Ihrem John sollte es gut gehen. Er sollte sich keine Sorgen
machen. Jetzt mussten sie nach vorn blicken. Jane streckte sich voller Zuversicht.
—
Rebekka war eingedöst, als
das Telefon klingelte. Sie richtete sich zwischen dem Chaos aus zerknitterten
Frauenzeitschriften und leeren Süßigkeitentüten verwirrt auf und griff mit
steifen, unbeholfenen Fingern nach dem Telefon. Es war Dorte.
»Jetzt herrscht endlich Ruhe im
Karton.« Sie konnte Dorte vor sich sehen,
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