Vergeltung am Degerloch
des etwa 20- bis 25-jährigen Toten ist noch nicht geklärt. Krk.«
Ich schleuderte die Zeitung gegen die Wand. Die Blätter spreizten sich und welkten über meinen Fernseher. Wieder kein Knall. Da passte alles: Feminismus, Männerhass, Mord und Psychiatrie. Emanzen morden unschuldige Jungs vom Land. Ich horchte auf. Was hatte ich da eben gedacht? Ein unschuldiger Junge vom Land? Wieso vom Land? Aber ja: der Rasierapparat. Ein Junge Anfang zwanzig hatte noch nicht den strotzenden Bartwuchs eines Krk. Wenn er einen Rasierer bei sich trug, dann, um zu übernachten. Also kam er von außerhalb. Aber nicht von weit weg, sonst hätte er Gepäck bei sich haben müssen und eine größere Summe Geldes. Dass er sein Gepäck nicht im Zimmer einer Freundin gelassen hatte, dafür sprach wiederum der Rasierer in der Tasche. Außerdem hatte er wahrscheinlich keine Freundin, sonst wäre er kaum allein im Kino gewesen. Kinokarten wurden in der Regel doppelt gezogen und doppelt an der Schranke dem Abreißer hingehalten. Außerdem hätte eine Freundin ihn doch wohl inzwischen vermisst. Dass noch keine Vermisstenanzeige die Polizei auf die Spur seiner Identität gebracht hatte, sprach ebenfalls dafür, dass er von außerhalb kam. Seine Eltern wähnten ihn vermutlich noch in der Stadt. Vielleicht hatte der Junge noch gar nicht gewusst, wo er übernachten wollte. Dass er bei den frostigen Temperaturen die Kumpanei der an der Johanneskirche ansässigen Penner gesucht hatte, hielt ich für unwahrscheinlich. Aber das musste man feststellen. Typisch Mann, dass er zwar an den Rasierapparat gedacht hatte, nicht aber an eine Unterhose zum Wechseln. Ich sammelte die Zeitung wieder ein und begab mich damit aufs Klo.
An Marthas mütterlichem, von banger Erwartung gefärbtem Kondolenzgesicht sah ich gleich, dass Louise noch nicht eingetroffen war, aber ihr Erscheinen unmittelbar bevorstand. Martha kam gerade aus Maries Büro. »Ihr Kaffee kommt auch gleich.«
Ich überlegte, ob ich mein Büro aufräumen sollte, und repetierte die Argumente für eine große Geschichte über Gewalt auf der Straße und Vorverurteilung durch die Männerpresse. Marthas Kaffee wurde von weiß gepuderten Vanillekipferln begleitet.
»Wie geht es Ihrer Tochter Gabi?«
Marthas Blick bekam einen devoten Schimmer. »Es muss halt.«
»Wir holen sie da wieder raus«, sagte ich generös. »Es wird schon nicht zum Prozess kommen.«
Martha knickte den Kopf zur Seite und zog die Schulter hoch.
»Sonst beschaffen wir ihr die beste Anwältin«, sagte ich.
»Ich hoffe, sie lernt was draus«, sagte Martha und zog sich zurück. Sie hatte etwas von einer Zugehfrau, die um volle Schreibtische und intellektuellen Dampf einen respektvollen Bogen machte, heimlich aber alles für Käse hielt.
Wieder einmal fragte ich mich, warum manche Mütter so hart wurden, wenn es um ihre Töchter ging. Meine Mutter hatte erbitterte Kämpfe mit mir ausgetragen, um zu verhindern, dass ich eines Nachts schwanger heimkam, im Grunde aber nichts sehnlicher gewünscht, als dass ich endlich genau wie sie die ganze Kinderscheiße am Hals hatte. Dass ich mich vom Dorf in die Stadt abgeseilt hatte, nahm sie mir bis heute übel.
Marie kam in mein Büro, den Stuttgarter Anzeiger in der Hand. Irritiert musterte sie mein schmuddeliges Chaos.
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich hab’s auch gelesen.«
Marie blickte mit halbem Lächeln auf mich herab. Sie wusste genau wie ich, dass Louise auf Leder stand, weshalb ich an Louises Tagen bevorzugt in schwarzer Lederhose kam.
»Was ist das nur für ein Schmierfink?«, bemerkte Marie. »Ist das nicht dieser Karl Kraus?«
Ich verschwieg, dass ich den Verfasser des Artikels gestern Abend getroffen hatte.
»Und wieder«, sagte Marie druckreif, »wird eine Frau, die ihr Leben verteidigt, psychiatrisiert. Hysterie oder Heimtücke, dazwischen gibt es für die Männerjustiz nichts. Auf Totschlag wird bei Frauen nicht plädiert, nur auf Mord oder Irrsinn.«
»Sie hat sich selbst als Mörderin bezeichnet«, gab ich zu bedenken. »Und dass der Junge ihr ans Leben wollte, ist durch nichts bewiesen.«
Marie sah mich mit dem Du-nicht-auch-noch-Blick an. »In Deutschland werden, soweit der Polizei bekannt, jedes Jahr gut dreitausend Menschen von anderen gewaltsam getötet, und in neunzig Prozent aller Fälle sind Männer die Täter. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war Gabi eigentlich das Opfer.«
Marie war studierte Juristin.
»Die an Sicherheit grenzende
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