Vergeltung am Degerloch
Wahrscheinlichkeit«, bemerkte ich, »beginnt erst bei 99,8 Prozent. Der vernünftige Zweifel schweigt erst dann, wenn unter tausend Fällen der Sachverhalt nur zweimal falsch beurteilt wird. Objektiv ist der Tote ein Mann.«
Marie lächelte. »Auch das spricht dafür, dass sein Mörder ein Mann war. Opfer männlicher Mordlust sind zu sechzig Prozent Männer. Nur im Sexualbereich sind Frauen und Mädchen zu achtzig Prozent diejenigen, die sterben. In Deutschland wird hochgerechnet alle drei Minuten eine Frau von einem Vater, Ehemann oder Freund verprügelt. Das Risiko, durch den eigenen Mann zu Schaden zu kommen, ist für eine Frau größer, als Opfer eines Autounfalls zu werden.«
Ich seufzte.
»Wir müssen der Männerpresse immer einen Schritt voraus sein«, sagte Marie.
»Journalistisch gesehen«, sagte ich, »haben wir immer das Nachsehen. Der Anzeiger erscheint täglich. Wir nur monatlich. Wir sehen noch nicht mal den Schwanz unseres Gegners von der Männerpresse. Er hat Kontakte zur Polizei, wir nicht.«
Auf Maries klarer Stirn entstand eine steile Falte. Sie schätzte schmutzige Assoziationen nicht. Sie war auch keine Lesbe, soviel ich wusste. Ihr Leben verlief ordentlich und zielbewusst. Wir hatten nichts gemeinsam, außer dass ich sie anhimmelte, was sie unter dem ihr zustehenden Respekt in der Rubrik Selbstbewusstsein einordnete. Im Gegensatz zu ihr hatte ich nichts studiert und nicht einmal Abitur. Die Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin war die einzige Wohltat, die meine Eltern für mich geplant hatten.
»Aber soviel ich weiß«, sagte Marie, »wissen wir bereits einiges über diesen Kraus. Louise hat, wenn ich mich recht erinnere, bei irgendeiner Gelegenheit schon einmal mit ihm zu tun gehabt.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Er soll mal was mit einer Schülerin gehabt haben.«
»Na bitte«, sagte Marie.
»Aber wenn wir aus Kraus einen Vergewaltiger machen, ändert das auch nichts daran, dass der Tote diesmal ein Bub ist«, sagte ich. »Außerdem ist Gabi wirklich lesbisch. Jeden falls hat sie mich im Sarah wüst angemacht. Und ob es Mart ha so recht ist, wenn wir diesen Fall in der Amazone öffentlich austappen, scheint mir auch fraglich. Ferner hat Gabi früher wohl mal für die Glamour geschrieben, und ich bezweifle, dass Louise davon begeistert ist, etwas über eine Sarah in der Amazone zu lesen, die früher mal für dieses Lesbenhetzblatt geschrieben hat und jetzt aus Männerhass Buben auf der Stra ße erschlägt.«
»Wenn du dich der Geschichte nicht gewachsen fühlst …«
»Doch, doch!«
Marie lächelte ein wenig. Ich blieb mit der Frage allein, was um alles in der Welt sie bewog, mit dieser eigensinnigen redaktionellen Entscheidung eine heimliche Revolte gegen Louises Linie anzuzetteln, die in letzter Zeit auf einen moderateren Dialog mit den Elementen der Männerwelt zielte. Louise kam mit Männern durchaus zurecht. Ihre Kommentare über Hängebrüste, Schildkrötenhälse und Nuttenärsche übertrafen an Bösartigkeit die der Männer um Längen. Louise bekam lange Zähne bei ungepflegten Burschen wie Gabi. Eierschalen, Komplexe und körperliche Verzweiflung entbehrten jeglicher Erotik.
Ich benutzte meine Recherchepflichten, um mich nach dem Morgenkaffee zu absentieren, ehe Louise kam. Maries Segen hatte ich. Martha nahm es zur Kenntnis.
Der Morgen war trocken, südwindig und so warm, dass man sich fühlte wie nach langer Krankheit aufgestanden. Die großen Kaufhäuser hatten seit einer halben Stunde offen. Alte Frauen waren unterwegs. Aus der damals noch erlaubten Peepshow kamen Dickbäuche, deren Blicke sich von der Ho seninnenschau auf die Konfrontation mit der Außenwelt umstellten. Der Rotebühlplatz bildete eine riesige, von McDonalds, einem kürzlich nach Plänen aus den sechziger Jahren erbauten Bürgertreffpunkt und der Kaserne des Finanzamts beherrschte Verkehrsscheide für die sechsspurigen Ströme von Süden nach Norden und Westen nach Osten. Die Fußgängerfurten waren weiträumig verteilt. Die Rotebühlstraße schlug ihre Schneise ziemlich gerade durch die Häuser gen Westen zu den Hängen, die Stuttgart allseits umfangen. Einen halben Kilometer vom Finanzamt entfernt lag der Feuersee tief unter dem Bürgersteig und der Apsis der filigranen neugotischen Johanneskirche, die mit Streben, Wimpergen und Filialen dem pietistischen Trutzburgenkonzept spottete. Stadtwärts stand ein Steakhaus, das im Sommer seine Gartenwirtschaft am Seeufer betrieb.
Auf der anderen
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