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Vergeltung am Degerloch

Vergeltung am Degerloch

Titel: Vergeltung am Degerloch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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entscheidend, warum Gabi den Jungen erschlagen hat.«
    Hede zog die Hand wieder zurück. »Also gut. Es kommt mir zwar nicht richtig vor, dass ich dir das erzähle, aber es muss wohl sein. Gabi ist als Mädchen von ihrem Vater –«
    »Ach, hör bloß auf!«
    »Sie ist eine sogenannte multiple Persönlichkeit. Du bist dem Burschen begegnet. Ich kenne die Lolita, die Masochistin, das Opferlämmchen, die Eremitin, die Asketin, die Göttin, die Studentin und die Jungfrau. Sie ist neun Personen. Wenn Gabi von sich spricht, dann sagt sie wir.«
    »Nein. Sie sagt: Ich bin schuldig.«
    »Im Moment ist sie die Mörderin. Vielleicht eine neue Figur. Die Figuren spalten sich plötzlich in Krisensituationen ab. Und dann sind sie da, für immer.«
    »Quatsch.«
    Hede stand auf, agil wie ein Gummiball, und streckte die Hand nach mir aus wie eine Mutter nach dem Kind. »Komm mit. Ich zeig dir was.«
    Ich versteckte meine Hände. »Geheimnisse sind immer der Beginn einer Vergewaltigung.«
    Sie lächelte und verschwand hinter einer Tür, hinter der ich die Folterkammer vermutete. Dann erschien sie wieder mit einem Weckglas in der Hand, in dem in einer gelblichen Flüssigkeit etwas Wurmartiges schwamm. Eigentlich waren es zwei Würmer, die einen gemeinsamen Kopf zu haben schienen, ausgefranst an den Rändern.
    »Ein Entwicklungshelfer«, sagte Hede, »hat mir das aus Nordafrika mitgebracht. Dort ist es noch allgemein üblich, dass die Mädchen beschnitten werden, wenn sie ungefähr acht bis zehn Jahre alt sind. Und das geht so: Die Mädchen kriegen ein schönes Kleidchen. Dann führt man sie in ein Zimmer. Die Mutter nimmt die Kleine auf den Schoß. Die Tanten halten ihr die Beine auseinander. Eine Alte nimmt ein rostiges Messer und schneidet dem Kind die Klitoris heraus, ohne Betäubung. Das Mädchen schreit. Wenn es ohnmächtig wird, wecken die Mütter und Tanten es wieder auf. Die Alte wühlt und schneidet so lange herum, bis alles weg ist. Dann näht sie die Haut zu. Nur ein kleines Loch bleibt offen, damit das Menstruationsblut abfließen kann. Vor der Hochzeitsnacht benutzen die Männer ihren Anus zum Geschlechtsverkehr. In der Hochzeitsnacht durchstößt der Mann das Loch und reißt die Naht auf. Ihr ganzes Leben hat die Frau Schmerzen und Probleme mit Entzündungen.«
    Mir wurde schwarz vor Augen. Das Zimmer kippte. Der Boden buckelte. Die Tür wich mir aus. Jemand half mir in ein schneeweißes Klo.
    »Wusstest du das nicht?«, sagte Hede, als die Möbel wieder senkrecht standen. »Frauen brauchen gute Nerven. Gabi hatte ihre eigene Art, die Augen zu verschließen. Ihr Vater kam stets zum Gute-Nacht-Sagen. Er nahm seine Vaterpflichten ernst. Er begutachtete das Wachstum ihrer Brüste, zählte die Schamhaare auf den blanken Venuslippen, bürstete sie, rasierte sie ab. Das Püppchen wurde geboren. Eines Abends nahm er ein Messer … Seitdem existiert das Opferlämmchen.«
    Meine Gefühle blockierten.
    »Du musst dir das so vorstellen«, sagte Hede. »Wenn etwas passierte, was Gabi mit klarem Verstand nicht aushalten konnte, dann schaltete sie sich ab und flüchtete – schwupps – in eine andere Person, die weit weg in ihrer Phantasie ihr eigenes symbolisches Leben führte. Das Opferlamm war gottergeben, schmerzunempfindlich.«
    »Und die Mutter? Martha?«
    »Keine der neun Personen, die Gabi sind, weiß, ob die Mutter etwas wusste. Aber die Mehrheit vermutet es, weil es nicht sein kann, dass der Mutter auf die Dauer so etwas entgeht. Der Bursche versuchte, der Mutter den Sohn zu geben. Mit Söhnen haben Mütter weniger Probleme. Sie werden nie zur erotischen Konkurrenz. Aber der Bursche konnte einfach nicht verstehen, warum die Mutter über seinen Affären mit Mädchen schier hysterisch wurde. Er vermutete, dass die Mutter ihn als Ersatz für den Ehemann missbrauchen wollte, und zog aus. Zu mir. Übrigens hat der Vater das Interesse an Gabi verloren, seitdem sie sich als Lesbe geoutet hat. Der Bursche in Gabi hat nach dem Eklat mit dem Vater monatelang mit der Masochistin gestritten, die von Gewalt und Schmerzen träumte und argumentativen Beistand vom Opferlämmchen erhielt. Allerdings war der Konflikt zwischen masochistischer Unzucht und religiöser Askese nicht zu lösen. Darum blieb Gabi letzten Endes bei mir.«
    »Und nun wird sie den Rest ihres Lebens in der Psychiatrie verbringen.«
    »Dazu gibt es keinen Grund. Gabi kann sich nicht umbringen, denn sie wüsste nicht, welche Person sterben müsste. Und es gibt in ihr

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