Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Mann auf der Flucht gewesen – wie lange hätte es gedauert, bis ihn auch die treusten seiner Anhänger im Stich gelassen und sich einen neuen Anführer gesucht hätten?
Nicht lange.
Also dann, denkt er, während er das frische weiße Charles-Tyrwhitt-Hemd überzieht, jetzt weißt du, wie’s Osama ergangen ist. Aus dem Untergrund kann man kein Terrornetz leiten – man braucht eine Basis.
Daher auch der Name – al-Qaida.
Die Basis.
Osamas Fehler war nicht, dass er eine Basis hatte. Der Fehler war, dass sie gefunden wurde. Dass sie angreifbar war.
Aziz ging also das Risiko ein, sich erneut an Scheich Yusuf zu wenden.
Ich brauche deine Hilfe, deine Gastfreundschaft, deinen Schutz.
Fünfundvierzig Minuten später kam ein Auto, um ihn abzuholen, und er stieg ein. Hätte Yusuf ihn als Sicherheitsrisiko betrachtet, als Schwachstelle, hätten ihn eine Kugel oder ein Messer auf dem Rücksitz erwartet. Stattdessen brachte ihn der Wagen zum Privatflughafen Le Bourget. Auch dort hätten sie’s tun können, noch auf der Startbahn, im Schutz des Lärms der landenden und startenden Jets, stattdessen aber setzten ihn Yusufs Männer in die Embraer.
Er speiste am Esstisch seiner eleganten Kabine, wurde bedient von einer Malayin von solch erlesener Schönheit, Zartheit und Perfektion, dass er fast hätte weinen mögen. Wenige Augenblicke später war die Maschine in der Luft, noch etwas später hatte sie bereits den französischen Luftraum verlassen und flog Richtung …
Tja, das weißt du immer noch nicht, oder?
Sie könnten dich überall hinbringen.
Er zieht die Hose des Anzugs von Anderson & Sheppard an. Yusuf kauft all seine westliche Kleidung in London, seine fernöstliche in Dubai. Aziz fragt sich, woher der Scheich seine Konfektionsgröße so genau kennt, und hört dann auf, sich zu wundern.
Es gibt Wichtigeres, über das es nachzudenken gilt.
Zum Beispiel das eigene Überleben.
Oder Rache.
Eins nach dem anderen, sagt er sich, während er das Jackett überzieht. Die bereitgestellten Schuhe sind natürlich von Crockett & Jones und passen perfekt.
Aziz prüft sein Aussehen im Spiegel an der Innenseite der Kleiderschranktür. Eine Niederlage einstecken ist das eine, denkt er, aber wie ein Versager aussehen ist etwas ganz anderes, auch gegenüber einem Blinden. Als er fertig angekleidet ist, holt er tief Luft und geht hinaus in die Hauptkabine.
Yusuf sitzt dort bereits, frühstückt ein gekochtes Ei, Mangoscheiben und Obstsaft. Aziz setzt sich zu ihm. Die reizende Malayin fragt ihn, was er gerne hätte, und er erwidert, er würde sich freuen, das Gleiche zu bekommen wie Scheich Yusuf.
Sie nickt und trippelt leise davon.
Die Embraer kann neunzehn Passagiere transportieren, zusätzlich zur zweiköpfigen Cockpitbesatzung und der schönen Stewardess, aber anscheinend sind nur er und Yusuf sowie zwei Leibwächter an Bord.
Es sei denn, denkt Aziz, es sind Killer.
»Hast du gut geschlafen?«, fragt Yusuf.
»Danke, ja.«
»Und der Anzug?«, fragt Yusuf. »Passt er dir? Zieht er dich an?«
Aziz merkt, dass Yusuf witzig sein möchte, und lacht. »Ja, sehr, du bist sehr großzügig.«
»Nichts zu danken. Deine Bemühungen, die Waffe zu erwerben …«
»Eine Falle«, erklärt Aziz.
»Du bist in die Falle getappt«, sagt Yusuf, »der Feind ist davongekommen. So war das wahrscheinlich nicht geplant.«
Aziz hütet sich vor Ausflüchten. »Nein.«
»Ich habe bereits Anrufe erhalten«, sagt Yusuf. »›Aziz ist ein Risiko. Aziz ist eine tickende Zeitbombe. Aziz ist eine Gefahr für uns alle.‹ Sie wollen, dass ich dich töte. Warum sollte ich es nicht tun?«
Die Stewardess bringt das Frühstück, stellt es vor Aziz ab, verneigt sich und geht. Er nutzt die Zeit, um einen Löffel zu nehmen und vorsichtig die Schale seines gekochten Eis zu zerschlagen.
Jetzt hängt alles von meiner Antwort ab, denkt er.
»Ob du mich töten sollst? Ich kann dir die Frage nicht beantworten. Ich kann dich nur bitten, dir eine andere Frage zu stellen.« Er legt eine Kunstpause ein, um die Wirkung zu steigern und seine Worte sorgfältig zu wählen. Wenn ich es verpatze, sind es möglicherweise meine letzten. »Wer, glaubst du, wird deinen Sohn rächen?«
Aziz zwingt sich, einen Löffel Ei zu essen, während Yusuf nachdenkt. Das Ei schmeckt nach nichts – nein, es schmeckt nach Angst. Im Flugzeug werden sie nicht schießen. Klinge oder Schlinge? Würden sie ihn vor den Augen der schönen Frau umbringen?
Er schluckt den Bissen
Weitere Kostenlose Bücher