Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
will, und eine Sekunde lang wackelt er, aber dann streckt er die Hand aus, berührt die Welle, findet sein Gleichgewicht, und die Welle spuckt ihn wieder aus …
Raus aus der Röhre auf die Shoulder.
Was für ein Rausch.
Das reine Adrenalin, Mann.
Er will es gleich noch mal machen, paddelt zum Pick-up-Boat, klettert an Bord, will nur kurz verschnaufen und ein Red Bull trinken.
Der Typ vom Boot reicht ihm ein Telefon.
»Toller Ride. Hier ist eine Nachricht für dich, Bro.«
Echt jetzt?
Er lauscht, legt auf und sagt: »Eine schaff ich noch.«
Lev wandert durch die von ihm so geliebte Wüste Negev.
Schon viel zu lange her, seit er das letzte Mal hier war. Er genießt die Einsamkeit der Wüste, die klare Luft, die Ruhe.
Aber das hier ist besser als Ruhe, denkt er.
Das hier ist Frieden.
Masada erhebt sich vor ihm.
Eine Erinnerung und eine Mahnung.
Warum er der ist, der er ist.
Er klettert zur alten Zitadelle hinauf und sieht sich den Sonnenuntergang vom Gipfel aus an. Am Abend isst er köstliches Lamm mit Couscous und flirtet mit der Kellnerin, macht allerdings den Fehler, noch mal in sein Zimmer zu gehen und etwas zu seinem »Schutz« zu holen, das er vergessen hatte.
Das Lämpchen für neue Nachrichten blinkt.
Er hört den Apparat ab und geht wieder runter.
Dann sagt er zu der Kellnerin: »Ich weiß, das klingt schrecklich und entspricht nicht den gesellschaftlichen Konventionen, aber ich hab nicht viel Zeit.«
Willem paddelt hinter seiner Frau und seinen beiden Mädchen durch den Kanal.
Die Zwillinge sind jetzt sieben.
Gestern Nacht, nachdem sie sich geliebt hatten, lag er neben Gisela wach und sprach mit ihr darüber, dass sie ja wieder schwanger werden könnte.
»Du wünschst dir noch einen Jungen«, hatte sie gesagt und ihm übers Haar gestreichelt.
»Das ist es nicht«, sagte er. »Ich bin sehr glücklich mit den Mädchen.«
»Aber …«
»Aber es wäre doch schön, noch mal ein Baby im Haus zu haben«, hatte er gesagt.
»Für dich vielleicht«, sagte sie sanft.
Aber er hörte den darin enthaltenen Vorwurf. Er ist so häufig weg – sie weiß nie, wo er ist oder wie lange er fortbleibt –, und sie muss sich alleine um das Haus und die Kinder kümmern. Kinder, die ihren Papa vermissen und Fragen stellen, die sie nicht beantworten kann. Wann kommt Papa nach Hause? Geht es Papa gut? Wann fahren wir in den Urlaub? Wann kommt Papa wirklich nach Hause?
Sie wurden sich nicht einig, und er hütete sich davor, sie zu drängen. Jetzt paddelt sie vor ihm, und er betrachtet ihren Nacken, ihr braunes Haar, das er so sehr liebt, und er denkt, lass gut sein. Sei dankbar für das, was du hast.
Einige Minuten später legen sie an einer hübschen kleinen Wiese an, um zu picknicken, und er muss die Mädchen bremsen, weil sie sonst das ganze Brot an die Enten verfüttern würden.
Dann klingelt sein Handy.
Gisela sieht ihn an, sie kann ihre Angst nicht verbergen.
Michel war noch nie in Dakar.
Es handelt sich also um eine Art Pilgerfahrt, eine Reise zu seinen Ursprüngen.
Dabei stellt er fest, dass er Franzose ist, kein Afrikaner.
Es ist interessant, Verwandte zu treffen – seine Cousins, seine Onkel und Tanten hätten ihn nicht gastfreundlicher und herzlicher empfangen können –, aber sie haben nur wenige gemeinsame Themen. Die Stadt ist chaotisch, das Essen scheußlich, der Strand schmutzig, der Wein – verdient die Bezeichnung nicht.
Nach drei Tagen schon war ihm langweilig, und er war gereizt.
Als das Telefon klingelt, ist er zugegebenermaßen erleichtert.
Amir weiß nicht so genau, was er mit seinem Urlaub anfangen soll, er hatte noch nie welchen.
Während er über den Hafen Marmaris an der »türkischen Riviera« schlendert, erinnert er sich, dass er direkt aus dem Flüchtlingslager ins Gefängnis kam und sich bereits unmittelbar nach seiner Entlassung Donovan anschloss.
Nach dem Einsatz in Barcelona und dem Befehl, sich zu »verstreuen«, wurde ihm bewusst, dass er eigentlich gar nicht wusste, wohin. In seiner Heimat und bei seiner Familie galt er als Ausgestoßener, in Gaza würde ihn ein Todesurteil erwarten, bestenfalls würde man ihn auf schmerzliche Weise meiden. Nach Israel konnte er ebenfalls schlecht – nicht dass er dies gewollt hätte. Also beschloss er, in die Türkei zu fahren, sie lag relativ nah, und er hatte Gutes darüber gehört.
Die Leute hatten recht.
Das Land ist wunderschön, das Essen gut, die Unterkünfte sauber und angenehm. Seltsam, ganz allein in einem
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