Vergeltung (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Dave die einzelnen Beweise durchgeht und erläutert.
Stan Mullen übernimmt das Mikro und erzählt seinen Teil der Geschichte. Dann zeigt Dave Graftons Videoaufzeichnung.
»Jetzt präsentieren die Ermittler eine neue Version«, sagt Dave. »Plötzlich soll ein Leuchtsignal auf einem Boot gezündet worden sein, nur dass der Kapitän des Bootes inzwischen versichert, er habe nichts dergleichen getan.«
Die Angehörigen sind nicht überzeugt.
Dave sieht einige spöttisch grinsen, andere schütteln den Kopf – und wieder stehen ein paar auf.
Besonders eine Frau beunruhigt ihn. Sie ist zierlich, hat kurzes, makellos gestyltes stahlgraues Haar, ihr Gesicht ist voller Falten, aber ihre blauen Augen strahlen, und sie hält sich kerzengerade. Wütend starrt sie Dave an und schüttelt den Kopf.
Dann zeigt Dave das Foto, das er für den entscheidenden Beweis hält – das Stück vom Zentraltank, das Fleming vom Grund des Ozeans geborgen hat.
»Es ist ein bisschen schwer zu erkennen«, sagt Dave, »aber Sie können sehen, dass die Metallzacken nach innen, nicht nach außen zeigen. Etwas muss den Tank von außen getroffen haben – er ist nicht von innen heraus explodiert.«
Er wirft ein Diagramm an die Wand, das zeigt, wie der Gefechtskopf einer Ein-Mann-Boden-Luft-Rakete explodieren und tödliche Kugelgeschosse in den Tank jagen würde. »Das ist das einzige Beweisstück, das sich nicht wegerklären lässt, und deshalb wurde es manipuliert.«
Dave stellt Fleming vor, der den Anwesenden erklärt, er habe den zuständigen Behörden dieses entscheidende Beweisstück übergeben und dass es später in einem Zustand aufgetaucht sei, der zu der offiziellen Version passte.
Diejenigen, die aufgestanden waren, setzen sich jetzt wieder. Einige bleiben an der Tür stehen, die Mäntel über den Arm gelegt. Andere beugen sich auf ihren Sitzen vor, wenden sich einander zu, zeigen auf die Fotos und schütteln die Köpfe – nicht weil sie ihm nicht glauben, sondern weil sie nicht fassen können, dass sie belogen wurden.
»Und dann ist da noch was«, sagt Dave. Er spielt die Aufnahme ab, die ihm Flynn gegeben hat. Im Raum ist es totenstill, während die Menschen den arabischen Worten lauschen.
»Das ist ein Zitat aus dem Koran«, übersetzt Dave. »Vers 211. Das ist der Befehl für den Abschuss des Flugzeugs. Die Stimme gehört Abdullah Aziz, der den Mord an unseren Angehörigen befohlen, geplant und bezahlt hat.«
Die Stimmung im Raum verändert sich. Zunächst hatte Skepsis geherrscht, dann Ungläubigkeit, später Wut.
Jetzt ist es blanker Zorn.
Dave bittet um Ruhe, und als sich der Saal wieder beruhigt hat, sagt er: »Wir haben geglaubt, was man uns erzählt hat – dass es sich um einen grausamen Winkelzug des Schicksals handelte, einen tragischen Unfall. Man hat uns um Loyalität gebeten und sich anschließend unser Schweigen erkauft.«
Er schaut in die Gesichter, in denen er dasselbe Gefühlschaos entdeckt, das er von sich selbst kennt.
»Ich jedenfalls werde nicht mehr schweigen«, sagt Dave. »Ich werde nicht zulassen, dass man die Erinnerung an meine Frau und meinen Sohn unter einem Berg von Lügen begräbt.«
Ein Mann ruft zurück: »Was können wir tun?!«
»Es gibt drei Möglichkeiten«, erwidert Dave. »Erstens, wir machen das, was wir bis jetzt machen – nichts. Zweitens – wir wenden uns an die Medien, versuchen Druck aufzubauen. Vielleicht bekommen wir dann ein paar Antworten, aber Antworten sind keine Gerechtigkeit. Gerechtigkeit bekommenwir nur, wenn wir uns für die dritte Möglichkeit entscheiden.«
Eine ältere Frau in der zweiten Reihe fragt: »Und die wäre?«
Dave klammert sich so fest an das Rednerpult, dass seine Fingerknöchel weiß werden.
»Wir jagen diese Männer«, erwidert er. »Wir werfen unsere Abfindungsgelder in einen Topf und engagieren die besten Söldner der Welt. Wir jagen Aziz und seine Leute und töten sie ebenso skrupellos, wie sie unsere Lieben ermordet haben.«
Fassungsloses Schweigen. Die Anwesenden denken nach – sie brauchen eine Weile, um zu begreifen, dass Dave sie bittet, ihm das von der Fluggesellschaft als Abfindung gezahlte Geld für eine Vergeltungsmission zur Verfügung zu stellen.
Ein Mann weiter hinten fasst seine Gedanken in Worte. Mit schroffem New Yorker Akzent fragt er: »Wir sollen Ihnen unser Geld überweisen? Woher wissen wir, dass Sie nicht damit verschwinden?«
Dave nickt, sagt nichts, dann wirft er erneut ein Bild an die Leinwand.
Ein Bild von Jake
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