Vergeltung
sehr um die Fakten. Denn Fakten sind wie Ansichten. Es kommt immer darauf an, wo man gerade steht, wenn man eine Sache betrachtet.«
Die Ente wandte sich um und schwamm zu ihm zurück, um mehr zu hören. »Ich brauche also ein Motiv für diese Morde«, stellte Tony fest. »Man tötet nicht nur so aus Spaß, ganz egal, was manche dieser Leute von sich behaupten. In ihrer eigenen Welt ergibt das, was sie tun, einen Sinn. Wir haben also einen Killer, der Sexarbeiterinnen umbringt, aber er hat keinen Sex mit ihnen. Auch das Töten selbst erregt ihn nicht, denn er macht es jedes Mal anders. Menschen, die durch das Morden erregt werden, brauchen ganz bestimmte Auslöser. Was bei mir persönlich einen Impuls auslöst, spricht nicht unbedingt auch dich an.« Er seufzte, und die Ente verlor das Interesse. »Ich nehm’s dir nicht übel, Kumpel. Manchmal langweile ich mich selbst.«
Er richtete sich auf und sprang zurück auf den Steg. Endlich hatte er einen Ort zum Auf-und-ab-Gehen gefunden. Mit gesenktem Kopf lief er bis zum Ende des Stegs, drehte dann um und schritt die volle Länge nochmals ab. Sein Humpeln wurde etwas schwächer, als sich zusammen mit seinem Denken auch sein Körper langsam entspannte. »Wenn du also keine Befriedigung aus dem Töten ziehst, was gibt es dir dann? Was willst du damit erreichen? Ich glaube nicht, dass es um Aufmerksamkeit oder Berühmtheit geht. Wenn man bekannt werden will und es klappt nicht gleich, dann fängt man an, E-Mails an Leute wie Penny Burgess zu schicken. Wenn du also eine bestimmte Person beeindrucken willst, dann muss sie bereits in der Lage sein, deine Botschaft zu verstehen.« Er drehte sich erneut um und ging wieder den Steg ab, diesmal langsamer.
»Jetzt wollen wir mal über die Opfer nachdenken. So oder so, hier geht es um die Opfer. Sexarbeiterinnen. Du bist kein religiöser Irrer, der versucht, die Straße zu säubern. Ein Mann mit einer Mission hätte nichts mit all diesem ausgeklügelten Fernsehserienzeug am Hut. Dem geht es um das Säubern, nicht um eine komplizierte, geheime Botschaft.
Was für einen Effekt erzielst du damit? Was erreichst du dadurch?« Abrupt blieb er stehen, langsam ging ihm ein Licht auf. »Du versuchst, sie alle so zu erschrecken, dass sie von der Straße wegbleiben. Ist es das?« Er fühlte, dass er sehr dicht an einer wichtigen Erkenntnis war, an etwas, wodurch die Informationen, die er durchforstet hatte, einen Sinn ergeben würden. »Nicht sie alle. Sondern eine bestimmte Frau«, sagte er langsam. »Du möchtest, dass sie damit aufhört. Du möchtest sie von der Straße wegholen. Sie soll nach Hause kommen.«
Er drehte sich auf dem Absatz um und rannte zum Boot zurück. Es fühlte sich an, als sei er hinter einer Idee her, die sich verflüchtigen würde, wenn er sie nicht sofort mit jemandem teilte. Zurück an Bord, griff er nach seinem Telefon und rief Paula per Kurzwahltaste an. Sobald sie am Apparat war, sagte er: »Er versucht, jemandem Angst zu machen.«
»Bist du das, Tony?«
»Ja, ich bin’s, Paula. Euer Mörder – er versucht, jemandem Angst einzujagen.«
»Er macht einer ganzen Menge Leute Angst, Tony.« Sie klang frustriert. Er konnte sich vorstellen, was für ein anstrengender Tag es ohne Carol als Koordinatorin gewesen sein musste.
»Das ist mir klar. Aber es geht hier um eine bestimmt Person, die er erschrecken möchte. Er möchte sie davon abbringen, auf der Straße anschaffen zu gehen. Er möchte, dass sie nach Hause kommt. Die Eskalation zeigt uns das ganz genau. Er hat mit den Untersten in der Hackordnung begonnen und arbeitet sich nach oben. Damit sagt er uns: ›Es ist ganz egal, auf welcher Sprosse der Leiter du stehst, dieses Schicksal kann auch dich ereilen.‹ Er möchte ihr zu verstehen geben, dass das, wovor auch immer sie flieht, immer noch besser ist als die Situation, in der sie sich jetzt befindet.«
»Das klingt logisch.« Paula seufzte. »Aber inwiefern hilft mir das weiter?«
»Ich weiß es nicht. Was ist denn mit der Sitte? Haben die keinen Überblick über die neuen Mädchen auf der Straße? Zumindest würden sie doch wissen, wo man sich mal umschauen sollte. Wir suchen nach einer Frau, die noch nicht lange auf der Straße ist. Wahrscheinlich ist sie in den Wochen vor dem ersten Mord aufgekreuzt. Schau mal, was du da herausfinden kannst. Namen, Hintergrundinformationen, alles, was du bekommen kannst. Wenn du sie findest, findest du auch ihn. Den Mann, der sie zurückhaben will.«
»Aber warum
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