Vergeltung
überbracht hatte, weinte sie richtig. Sie weinte, als hätte sie noch nie im Leben geweint, und jede Zurückhaltung schien vergessen. Ihr ganzer Körper krümmte sich bei jedem Schluchzer zusammen.
Micky warf Betsy einen Blick zu, der fragte: »Was sollen wir jetzt machen?« Doch Betsy war schneller und hatte das Zimmer bereits halb durchquert. Sie zog einen zweiten Stuhl heran und nahm Carol in den Arm, als sei sie ihr Kind. Betsy streichelte ihr über den Kopf und tröstete sie leise, während Carol sich ausweinte. Micky lief indessen zum Schrank, schenkte drei große Whiskys ein und stellte die Gläser auf den Tisch. Dann griff sie nach einer Rolle Küchenpapier.
Schließlich hörte Carol auf zu weinen. Sie hob den Kopf, holte Luft, schluckte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Micky riss ein paar Blatt Küchenpapier ab und reichte sie ihr. Carol wischte sich das Gesicht ab, schneuzte sich, und dann entdeckte sie den Whisky. In einem Zug leerte sie eines der Gläser und atmete tief durch. Sie sah völlig fertig und kaputt aus, dachte Micky. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
»Ich entschuldige mich nicht für das, was ich gesagt habe«, erklärte sie.
Betsy lächelte sie bewundernd an. »Natürlich tun Sie das nicht. Sie sind eine Frau nach meinem Herzen, Chief Inspector Jordan. Aber bitte, glauben Sie mir. Vielleicht macht es von Ihrem Standpunkt aus einen anderen Eindruck, aber auch wir sind Jacko Vance’ Opfer. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass es für Sie eine neue Erfahrung ist.«
48
N achdem Carol das Boot so plötzlich verlassen hatte, war Alvin zurück zur Zentrale gefahren. Gewöhnlich war Tony immer froh, wenn man ihn sich selbst überließ. Sogar wenn es um die Leute ging, die er mochte. Aber zurzeit befürchtete er jedes Mal, wenn Carol ihn verließ, dass es diesmal endgültig sein würde. Ihr Besuch auf dem Boot hatte nicht der Versöhnung gedient, das wusste er. Sie war gekommen, weil sie etwas brauchte, das ihr wichtiger war als der Wunsch, ihn zu ignorieren. Die Frage war: Was würde passieren, wenn all das vorüber war? Die Aussicht stimmte ihn traurig.
Wenn er so unzufrieden mit sich selbst war, dann konnte ihm nur seine Arbeit Linderung bringen. Er versuchte also, nicht weiter an Carol Jordan zu denken, und wandte sich wieder seinem Laptop zu. Leider war das nicht so einfach. Immer wieder drängte sich ihm ins Bewusstsein, wie sehr sie gerade litt. Er hasste es, sie derart leiden zu sehen, vor allem da dieses Leid zumindest teilweise durch ihn entstanden war. Am schlimmsten war, dass sie einfach hinausgestürmt war. Er wusste nicht, wo sie sich jetzt aufhielt und wie er ihr helfen konnte.
Sosehr Tony sich auch zu konzentrieren versuchte, es klappte einfach nicht. Es war auch nicht hilfreich, dass der ganze Raum nach den Überresten des Fish-and-Chips-Imbisses roch, die er nicht mehr hatte aufessen können. Er zog die Mülltüte aus dem Eimer unter der Spüle und knotete sie zu. Dann kletterte er hinaus aufs Deck und ging den Steg entlang bis zum nächsten Mülleimer. Die Türen ließ er offen stehen, um die kühle, frische Nachtluft in den Innenraum des Bootes zu lassen. »Wenn wir hier in einem Thriller wären«, sagte er zu sich selbst, »dann würde der Bösewicht sich jetzt an Bord schleichen und sich in der Kabine verstecken.« Als er sich umwandte, lag das Boot reglos. »Hat nicht geklappt.«
Zurück an Bord, lehnte er sich an die Reling und ließ den Blick über die Anlegestellen schweifen. Die Dächer der Boote wirkten wie schwarze Käfer, die in Reih und Glied das Ufer säumten. Auf manchen Booten brannte Licht und schien auf die schwarze Wasserfläche hinaus. In weiter Ferne führte ein Mann ein Pärchen West Highland Terrier spazieren. Die Stimmen einer Gruppe junger Männer, die gerade aus dem Pub kam, hallten lärmend über die Wasseroberfläche. Aus den Fassaden der alten Lagerhäuser, die jetzt zu Apartmenthäusern mit Kanalblick umfunktioniert worden waren, erschienen die sich zufällig ergebenden Muster erleuchteter Quadrate und Vierecke.
»Das Motiv«, sagte er zu einer vorbeischwimmenden Stockente. »Das ist es, wodurch Psychologen und Polizeibeamte sich unterscheiden. Wir können ohne Motive nichts anfangen. Aber für Polizisten ist das nicht so wichtig. Bitte nur die Fakten, Ma’am. Darauf sind sie aus. Gerichtsmedizinische Beweise, Zeugen, Tatsachen, die sie für nicht vortäuschbar halten. Mir persönlich geht es nicht so
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