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Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Val McDermid
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diese Leute so gut, weil er um Haaresbreite selbst einer von ihnen geworden wäre.
    Doch letztendlich wurde er gerettet durch die kostbare Gabe des Einfühlungsvermögens. Das Einzige, was Menschen wie ihn herauszureißen vermochte, hatte ihn erlöst: die Liebe. Und er fand sie an einem völlig unerwarteten Ort.
    Er war nie ein hübsches Kind gewesen. Er wusste, dass es so war, weil man es ihm immer wieder gesagt hatte. Objektive Beweise dafür hatte er allerdings kaum. Es gab so gut wie keine Fotos. Er hatte ein paar Klassenfotos; offenbar hatte sich Vanessa vom Klassenlehrer breitschlagen lassen, einen Abzug zu bestellen. Das war alles. Er wusste nur deshalb, welcher von den Jungen er selbst war, weil seine Großmutter es ihm gezeigt hatte. In der Regel begleitet von der Bemerkung: »Jeder, der sich dieses Bild anschaut, weiß gleich, welcher der größte Nichtsnutz der ganzen Bande ist.« Und dann deutete sie mit ihrem knubbeligen arthritischen Finger auf die Fotografie.
    Der kleine Nichtsnutz Tony Hill. Seine kurzen Hosen waren etwas zu kurz und zu eng, so dass die mageren Oberschenkel und spitzen Knie zu sehen waren. Mit hochgezogenen Schultern und steif an den Körper gepressten Armen stand er da. Ein schmales Gesicht unter einem Schopf lockiger Haare, die aussahen, als hätten sie nie so etwas Verweichlichtes wie einen Friseur gesehen. Er hatte den ängstlichen Gesichtsausdruck eines Kindes, das nicht weiß, aus welcher Richtung der nächste Schlag kommen wird, nur dass er kommen würde, das war sicher. Aber selbst damals schon fielen seine Augen auf. Ihr blaues Funkeln schien ungetrübt. Sie deuteten auf einen ungebrochenen Geist hin, der noch nicht aufgegeben hatte. Noch nicht.
    In der Schule war er schrecklich gehänselt worden. Dank der Erziehung von Vanessa und ihrer Mutter war er schon von weitem als Opfer erkennbar. Viele waren bereit, sich auf einen hilflosen, ungeschützten Jungen zu stürzen. Man konnte Tony Hill verprügeln und sicher sein, dass seine Mutter nicht am nächsten Morgen schimpfend beim Rektor auftauchen würde. Beim Sport wurde er immer als Letzter in die Mannschaft gewählt und war immer der Erste, der ausgelacht wurde. Seine Schulzeit war eine einzige Elendskarriere.
    In der Essensschlange stellte er sich immer als Letzter an. Er hatte gelernt, dass das die einzige Möglichkeit war, überhaupt an eine Mahlzeit zu kommen. Wenn er allen Größeren den Vortritt ließ, konnte er letztendlich sein Tablett zum Tisch tragen, ohne dass seine Süßspeise »zufällig« in seinem Fleisch mit Soße landete. Die kleineren Jungen hatten kein Interesse daran, ihm ein Bein zu stellen oder auf seine Pommes zu spucken.
    Den Frauen an der Essensausgabe hatte er nie viel Beachtung geschenkt. Tony war daran gewöhnt, den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass die Erwachsenen ihn nicht bemerkten. Deshalb war er sehr überrascht, als ihn eine der Köchinnen an der Essenstheke ansprach. »Was ist los mit dir, Kleiner?«, fragte die Frau, und ihr starker Dialekt machte es ihm schwer zu verstehen, was sie sagte.
    Er schaute panisch über die Schulter zurück in der Angst, dass einer der Quälgeister sich von hinten angeschlichen hatte. Dann stellte er überrascht fest, dass sie ihn meinte. »Ja, dich mein ich, du Dummkopf.«
    Er schüttelte den Kopf und zog vor Angst die Oberlippe hoch wie ein nervöser Terrier. »Nichts«, antwortete er.
    »Du mogelst«, protestierte sie, während sie eine extra große Portion Nudelauflauf auf seinen Teller schaufelte. »Komm mal hierher, nach hinten.« Sie deutete auf den schmalen Durchgang, der zur Küche führte.
    Nun ernsthaft verängstigt, vergewisserte sich Tony, dass niemand ihn beobachtete, und schlüpfte durch die Öffnung. Er klammerte sich an sein Tablett, als wolle er sich damit abschirmen, während er im Kücheneingang stand. Die Frau kam auf ihn zu und führte ihn um die Ecke in den hinteren Teil der Küche, wo sich die wirkliche Arbeit abspielte. Vier Frauen spülten, in dichte Dampfwolken gehüllt, riesige Töpfe in tiefen Spülbecken ab. Eine fünfte lehnte am Türpfosten der Hintertür und rauchte. »Setz dich da hin und iss«, wies ihn die Frau an und zeigte auf einen hohen Hocker an der Arbeitstheke.
    »Hast du mal wieder ’n Streuner gerettet, Joan?«, fragte die rauchende Frau.
    Tonys Hunger ließ ihn seine Angst vergessen, und er schaufelte sich das Essen in den Mund. Die Frau, Joan, verschränkte die Arme und schaute ihm zufrieden dabei zu. »Du bist

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