Vergeltung
immer der Letzte in der Schlange«, sagte sie mit freundlicher Stimme. »Die ärgern dich, was?«
Er fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen traten, und verschluckte sich fast an den glitschigen Makkaroni. Dann starrte er schweigend auf seinen Teller.
»Ich habe Hunde«, erzählte sie. »Ich könnte jemanden brauchen, der nach der Schule mit ihnen spazieren geht. Wär das vielleicht was für dich?«
Er mochte Hunde nicht besonders. Aber er wollte mit jemandem zusammen sein, der so mit ihm redete, wie Joan es tat. Also nickte er, immer noch mit gesenktem Blick.
»Dann ist das also ausgemacht. Wir treffen uns nach dem Klingeln am Hinterausgang. Musst du zu Hause jemandem Bescheid geben?«
Tony schüttelte den Kopf. »Meiner Oma ist das egal«, antwortete er. »Und meine Mutter kommt nie vor sieben nach Hause.«
Und das war der Anfang der ganzen Geschichte gewesen. Joan hatte ihn nie nach seinem Familienleben gefragt. Nachdem er kapiert hatte, dass er ihr vertrauen konnte, hörte sie ihm stets zu, bohrte allerdings nie nach und gab auch keine Beurteilungen ab. Sie hatte fünf Hunde, jeder von ihnen ein eigenständiges Individuum. Obwohl die Hunde Tony nie so wichtig waren, wie sie es für Joan waren, lernte er, so zu tun, als ob. Er war dabei nicht respektlos, sondern wollte einfach Joan nicht im Stich lassen. Sie versuchte nie, ihm die Mutter zu ersetzen oder ihn so zu beeinflussen, dass er ihr größere Bedeutung in seinem Leben einräumte. Sie war eine freundliche, kinderlose Frau, die seinen Schmerz genauso wahrgenommen hatte, wie sie sich zu Hunden im Tierheim hingezogen fühlte. »Ich weiß immer genau, welche gutmütig sind«, erzählte sie ihm und den anderen Spaziergängern mit Hunden oft stolz.
Und sie ermutigte ihn. Joan war selbst keine besonders kluge Frau, aber sie erkannte Intelligenz, wenn sie ihr begegnete. Sie erklärte ihm, er könne seinem Leid entfliehen, wenn er sich anstrengte, da er dadurch neue Möglichkeiten bekäme. Sie nahm ihn in den Arm, wenn er eine Prüfung bestanden hatte, und sprach ihm Mut zu, wenn er resignierte. Als er sechzehn war, eröffnete sie ihm, dass er sie nicht mehr besuchen solle.
Sie hatten am Resopaltisch in der Küche gesessen und Tee getrunken. »Es geht nicht, dass du weiter hier vorbeikommst«, sagte sie. »Ich habe Krebs, mein Junge. Offenbar ist es ziemlich schlimm. Sie sagen, ich hätte nur noch ein paar Wochen zu leben. Morgen bringe ich die Hunde zum Tierarzt und lasse sie einschläfern. Sie sind alle viel zu alt, um sich an einen anderen Menschen zu gewöhnen, und ich glaub nicht, dass deine Oma Platz für sie hat.« Sie tätschelte seine Hand. »Ich will, dass du mich so in Erinnerung behältst, wie ich bin. Wie ich war. Also verabschieden wir uns besser jetzt.«
Entsetzt hatte er gegen ihre Entscheidung protestiert und darauf gepocht, bis zum bitteren Ende an ihrer Seite zu bleiben. Aber sie hatte darauf bestanden. »Es ist für alles gesorgt, mein Junge. Ich bringe hier alles in Ordnung und dann gehe ich ins Hospiz. Ich hab gehört, die Leute dort wären sehr nett.«
Dann hatten sie zusammen geweint. Es war schwer für ihn, doch er hatte ihre Wünsche respektiert. Fünf Wochen später hatte ihn eine der Köchinnen zu sich gerufen und ihm erzählt, dass Joan gestorben sei. »Es war ganz friedlich«, sagte sie. »Aber sie fehlt uns hier sehr.«
Er hatte genickt, denn seiner Stimme konnte er nicht trauen. Aber er hatte damals schon entdeckt, dass Joan ihm beigebracht hatte, mit dieser großen Lücke umzugehen. Er war nicht mehr derselbe Junge, mit dem sie sich angefreundet hatte.
Erst viele Jahre später, als er seine Abschlussarbeit über Persönlichkeitsstörungen und psychopathisches Verhalten schrieb, wurde ihm klar, was Joan für ihn getan hatte. Die Feststellung, dass Joan ihn vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt hatte, als sie ihn damals in der Essensschlange ansprach, war keine Übertreibung. Sie war der erste Mensch gewesen, der ihm Liebe gegeben hatte. Zwar eine schroffe, unsentimentale Art von Liebe. Aber Liebe war es, und obschon er bis dahin keinerlei Erfahrungen dieser Art gesammelt hatte, hatte er sie doch erkannt.
Trotz Joans Fürsorge war er jedoch nie so weit gekommen, dass er leicht Kontakt zu anderen Menschen fand. Er hatte gelernt, so zu tun, als ob, und nannte das »als Normalmensch durchgehen«. Er hatte keinen Freundeskreis wie die meisten seiner Kollegen. Er hatte auch keine Liste verflossener Freundinnen und
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