Vergeltung
Liebhaberinnen wie die anderen. Die wenigen Menschen, für die er wirklich etwas empfand, waren deshalb umso kostbarer für ihn. Der Gedanke, Carol Jordan zu verlieren, verursachte ihm geradezu körperliche Schmerzen. Kündigte sich mit dem Stechen in der Brust etwa ein Herzanfall an?
Er konnte sie auf verschiedene Art und Weise verlieren. Auf der Hand lag: Sie hatte ihm klargemacht, dass es ihr gleichgültig war, ob sie ihn jemals wiedersah. Aber es gab immer noch die Hoffnung, dass sie ihre Meinung änderte. Doch drohte auch eine andere Art des endgültigen Verlusts. In dem Zustand, in dem sie sich befand, würde sie wenig Wert auf ihr Leben legen. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie beschließen könnte, sich Vance alleine entgegenzustellen – und das konnte nur zu einem Ergebnis führen.
Dann fiel ihm ein, dass er vielleicht nicht der einzige Mensch war, der Carol vor sich selbst retten konnte. Er griff nach seinem Telefon und rief Alvin Ambrose an. »Ich habe im Moment ziemlich viel zu tun«, sagte der Sergeant, als er sich meldete.
»Dann mach ich es kurz«, entgegnete Tony. »Carol Jordan ist unterwegs, um Jacko Vance aufzuhalten.«
50
P aula schaute auf die Uhr. Sie fühlte sich bedrückt und war kurz davor, die Sache mit der Sitte aufzugeben und nach Hause zu gehen. Jetzt sollte sie eigentlich in ihrer Küche sitzen und Dr. Elinor Blessing dabei zuschauen, wie sie ihre chirurgischen Fertigkeiten beim Zerlegen einer Lammkeule anwendete. Sie hoffte, dass noch etwas für sie übrig bleiben würde, nachdem die Gäste sich satt gegessen hatten. Sie gähnte und senkte den Kopf auf ihre verschränkten Arme vor sich auf dem Tisch. Fünf Minuten würde sie ihnen noch geben, dann war Schluss.
Sie schreckte aus dem Schlaf hoch, als sie merkte, dass jemand neben ihr stand. Der helle Lichtschein ihrer Schreibtischlampe blendete sie, so dass sie nur die Umrisse der Gestalt erkennen konnte, die mit ihr im spärlich beleuchteten Büro war. Sie richtete sich schnell auf, schob ihren Stuhl zurück und kam wankend auf die Füße.
Die Frau neben ihr gab ein leises Lachen von sich. Sie war mittleren Alters, mittlerer Größe und durchschnittlicher Figur. Ihr dunkles Haar trug sie in einem sauberen Kurzhaarschnitt. Das Gesicht mit Knubbelnase und Kussmund erinnerte ein bisschen an einen Gartenzwerg. »Tut mir leid, dass ich Sie beim Nickerchen störe«, sagte sie. »Ich bin Sergeant Dean von der Sitte.«
Paula nickte und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Hallo. Entschuldigung. Ich bin DC McIntyre. Ich hab nur mal kurz den Kopf angelehnt …«
»Ich weiß, wer Sie sind, Süße.« Man hörte, dass sie aus dem Nordosten kam, aber wohl ein paar Jahre woanders verbracht hatte. »Kein Grund, sich zu entschuldigen. Ich weiß, wie das ist, wenn man mitten in einer Ermittlung steckt. Manchmal fragt man sich, ob man nur geträumt hat, dass es so etwas wie ein Bett tatsächlich gibt.«
»Danke, dass Sie hergekommen sind. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie Ihren Samstagabend drangeben.«
»Ich dachte, es ist einfacher vorbeizukommen. Nebenbei bemerkt, sind mein Mann und meine beiden Jungs beim Sunderland-Spiel. Bis die nach dem Fußball ihr übliches Curry verdrückt haben, wird es elf. Sie halten mich also höchstens von schlechten Fernsehserien ab. Was Bryant mir erzählt hat, klang wesentlich interessanter. Klären Sie mich genauer auf?«
DS Dean machte es sich auf Chris Devines Schreibtischstuhl gemütlich und legte ihre Stiefel bequem auf dem Papierkorb ab. Paula versuchte, es zu ignorieren.
Das offensichtliche Interesse der Sittenpolizistin machte Paula etwas misstrauisch, trotzdem erklärte sie ihr Tonys Theorie, so gut sie konnte, und lächelte dann entschuldigend. »Die Sache mit Dr. Hills Theorien ist, dass sie …«
»Völlig verrückt klingen?«
Paula kicherte. »Manche schon. Aber ich arbeite schon lange genug mit ihm zusammen, um zu wissen, dass es fast schon erschreckend ist, wie oft er damit richtigliegt.«
»Ich habe gehört, dass er gut ist«, entgegnete die Kollegin. »Man sagt, dass er einer der Gründe für Carol Jordans Erfolgsrate ist.«
Das ging Paula gegen den Strich. »Unterschätzen Sie die Chefin nicht. Sie ist eine verdammt gute Ermittlerin.«
»Ich bin mir sicher, dass sie das ist. Aber von Zeit zu Zeit brauchen wir alle ein bisschen Hilfe. Und deshalb bin ich hier. Wenn andere Kollegen sich für Sachen interessieren, die sich in meinem Ressort abspielen, dann werde ich
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